An neuen Orten. Rainer Bucher

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An neuen Orten - Rainer Bucher

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und Familie“, wie bei diesem Thema katholisch üblich, zum nicht geringen Teil auch.

      Bischof Ackermann, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Fragen des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche,114 resümiert in erfreulicher Deutlichkeit, worauf die wissenschaftlichen Daten seit längerem hinweisen:115 In kaum einem Bereich hat sich die katholische Kirche diskursiv tiefer ins Abseits der Irrelevanz manövriert denn in jenem prekären Feld menschlicher Existenz, das im kirchlichen Jargon mit den Stichworten „Ehe und Familie“ umschrieben wird, lehramtlich eine spezifische und durchaus nicht widerspruchsfreie Kopplung von Sexual-, Pastoral-, Gesellschafts-, Politik- und Moraldiskurs repräsentiert und tatsächlich in so ziemlich jedes Menschen Leben eine prekäre Realität anvisiert: wie im engsten Kreis zusammenleben: frei und doch auf Dauer, intim und respektvoll, kooperativ und solidarisch, intergenerationell und Kinder gebärend und sozialisierend, und dabei als Ort physischer Stabilisierung und psychischer Regeneration – um einige klassische Elemente einer kulturunabhängigen Familiendefinition zu nennen. Und das als fehlbare, schwache und bedürftige Menschen?

      Mit großer Selbstverständlichkeit geht der Synodenbeschluss davon aus, dass die katholische Kirche bei der Gestaltung von privaten Intimbeziehungen und speziell in sexualibus gefragt ist und gefragt wird, dass man von ihr Orientierung erwartet, ja Gefolgschaft leistet. Der Synodenbeschluss repräsentiert auf weite Strecken noch jenen kirchlichen Erlaubnis-, Herrschafts- und Autoritätsdiskurs, wie er über lange Jahrhunderte das private wie öffentliche Leben beherrscht hatte.

      Damit aber ist es nun vorbei, selbst bei Katholikinnen und Katholiken und selbst bei jenen, die grundsätzlich der Kirche noch etwas glauben und daher Kontakt zu ihr halten. Maria Widl hält ebenso lapidar wie zutreffend fest: „Seit Humanae vitae erweist sich die kirchliche Lehre über Ehe und Sexualität auch innerkirchlich als unvermittelbar“ und in die Kultur hinein wirke „sie nur insofern, als Menschen sich selbst als automatisch aus der Kirche ausgeschlossen betrachten, wenn sie sich scheiden lassen.“116

      Der Synodentext arbeitet somit auf einer Grundlage, die nicht mehr existiert und selbst damals, sieben Jahre nach Humanae vitae, schon reichlich brüchig war. Er wirkt daher wie ein Relikt aus jüngst vergangenen Zeiten, als die private und intime Lebensführung sich zumindest grundsätzlich und in ihren Normen noch nach kirchlichen Vorgaben richtete.117 Vor allem für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung erscheint somit der vorliegende Text interessant, nicht unbedingt für die notorisch gegenwartsorientierte Pastoraltheologie, der es um den situativen Sinn und die Bedeutung kirchlicher Traditionen heute geht.118

      Eine solche im eigentlichen Sinne pastorale Bedeutung scheint der Synodentext kaum mehr zu besitzen. Sinn und die Bedeutung dessen, worum es der katholischen Tradition im Bereich des engsten menschlichen Zusammenlebens geht, mag dem Text zu entnehmen sein, praktische Wirksamkeit entwickelt er selbst bei den Katholikinnen und Katholiken nicht mehr. Zudem dürfte er auch den kirchlichen Insidern schlicht mehr oder weniger unbekannt sein.

       2 Analytische Annäherungen

      Der pastoraltheologischen Kommentierung stehen in dieser Lage nun aber einige erprobte wissenschaftliche Auswege offen.

       2.1 Die Restrelevanz

      Zum einen kann auf eine gewisse pastorale Restrelevanz des kirchlichen Moraldiskurses hingewiesen werden. Diese Restrelevanz wird gerade durch die mittlerweile fast unüberbrückbar breite Zone zwischen offizieller kirchenamtlicher Normierung und heutiger Beziehungsrealität eröffnet – wenn auch meist im Modus des Konflikts. Austragungsorte solcher Konflikte sind dann zum Beispiel die professionellen pastoralen Akteure, etwa im jugendpastoralen Bereich.119 Sie sind angehalten, qua Dienstpflicht Positionen zu vertreten, die sie zum größten Teil selbst nicht für plausibel erachten, die sicherlich jedenfalls den wenigsten ihrer Adressaten noch plausibilisierbar sind.

      Auch wirken in spezifischen kirchlichen Sozialmilieus, etwa in den Pfarrgemeinden, die kirchlichen Lehren zu Ehe und Familie durchaus noch wertungs- und milieuprägend nach. Gegen die kirchlichen Lebensführungsnormen (offen) verstoßende Gemeindemitglieder und Hauptamtliche im pastoralen Dienst müssen immer noch mit Ausgrenzungsreaktionen rechnen. Freilich sind auch Phänomene einer gewachsenen Toleranz gegenüber „abweichenden“ Lebenskonzepten im innerkatholischen Milieu zu beobachten,120 nicht zuletzt die fast schon selbstverständliche Akzeptanz quasi-ehelicher Lebensformen von Pfarrpriestern seitens der Gemeinde belegt dies. Diese sich anbahnende Offenheit könnte darin begründet sein, dass auch ältere Gemeindemitglieder spätestens in den Lebensformen ihrer eigenen Kinder und Enkel seit einiger Zeit mit den gewandelten Beziehungsrealitäten der Gegenwart konfrontiert sein dürften und entweder die Sinnlosigkeit moralisierenden Protests dagegen erkennen oder gar diese neue Beziehungspluralität als Fortschritt gegenüber der eigenen, „unfreieren“ Sozialisation erleben.

      Nicht zu vergessen schließlich ist das persönliche Gewissen, das sicher für manche Katholikin, manchen Katholiken einen Ort darstellt, an dem der Spalt zwischen eigener Lebensweise und Lebensform und kirchenoffiziellen Normierungen zumindest erkennbar und relevant wird und wo daher die offizielle kirchliche Lehre bleibende, wenn auch relativierte Relevanz besitzt.

       2.2 Die gesellschaftliche Entwicklung

      Die pastoraltheologische Relektüre des Synodenbeschlusses kann zudem die Entwicklungen rekonstruieren, die zur beschriebenen Irrelevanz kirchenoffizieller Diskurse im Feld von „Ehe und Familie“ führten. Hier dürften zwei an sich zu unterscheidende, sich aber wechselseitig verstärkende und zuletzt in ihrer gemeinsamen Grammatik verwandte Prozesse zu jener geradezu diametralen Spreizung von kirchlicher Norm und realen Praktiken auch bei praktizierenden Kirchenmitgliedern im Feld von Ehe, Familie und Sexualpraktiken geführt haben, die heute zu beobachten ist.

      Zum einen hat in den letzten Jahrzehnten ein grundlegender Umbau der Vergesellschaftungsformen des Religiösen in der deutschen Gesellschaft stattgefunden. Religiöse Partizipation und religiöse Praktiken organisieren sich dramatisch abnehmend in den Kategorien von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht, wie sie für die katholische Kirche lange nicht nur normativ, sondern in hohem Maße auch real galten. Im Zuge der globalen Durchsetzung eines liberalen, kapitalistischen Gesellschaftssystems geraten religiöse Plausibilitäten und die ihnen folgenden moralischen Normen und Praktiken unter den Zustimmungsvorbehalt des Einzelnen. Je näher diese Plausibilitäten und Normen die persönliche Lebensführung berühren, umso mehr wird diese Freiheit auch beansprucht.121 Dies bedeutet nichts weniger als die Verflüssigung der Kirchen als ehemals mächtige Heilsbürokratien.122

      Der gleiche hintergründige Freisetzungsprozess hat auch zur Verflüssigung der früher mehr oder weniger ehernen Geschlechterrollen geführt. Es ist zwar erst seit kurzem, aber eben mittlerweile überaus wirksame gesellschaftliche Realität, dass Frauen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsressourcen und damit zu Positionen mit eigenständigen Einkommens- und damit Selbsterhaltungschancen besitzen.123 Dies befreite Frauenbiografien von der früher praktisch unlösbaren (Ausnahme: Klostereintritt) Kopplung an Männerbiografien. Grundsätzlich entkoppelt wurden zudem mehr oder weniger zeitgleich Sexualität von Reproduktion sowie das patriarchale Schema, das Frauen der „Innenwelt“ von Gefühl, Haushalt und Religion, Männer aber der „Außenwelt“ von Öffentlichkeit, Herrschaft, Rationalität und Krieg zuwies.

      Der daraus folgende irreversible Wandel der Familienformen ist Gegenstand intensiver soziologischer Forschung.124 Denn:

      [Das] Ausmaß der Veränderungen ist verblüffend. An Stelle der fraglosen Realisierung der elterlich-traditionellen

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