An neuen Orten. Rainer Bucher

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An neuen Orten - Rainer Bucher

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man hineingeboren, hineinsozialisiert und notfalls hineingezwungen wurde, zu Anbieterinnen auf dem Markt von Sinn, Lebensbewältigung und Weltorientierung: stark und einflussreich immer noch, aber seit einiger Zeit eben auch erfolgs- und marktabhängig.

      Weder personen-interne Sanktionsmechanismen, installiert etwa mittels einer „Pastoral der Angst“, noch drohende soziale Ächtung zwingen heute zu kirchlicher Partizipation. Die Lizenz, sich der Religion und ihren Institutionen gegenüber frei zu verhalten, ist nunmehr auch bei den religiöse Herrschaft durchaus gewohnten Katholiken und Katholikinnen angekommen. Dieser „Einbruch der Moderne“ traf gerade die katholische Kirche ziemlich hart. Die Schleifung ihrer im 19. Jahrhundert sorgfältig errichteten und theologisch abgesicherten Institutionsfestung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sie einigermaßen überrascht. Die Kirchen müssen gegenwärtig schmerzhaft lernen, in den Ruinen ihrer ehemals triumphalen, nunmehr aber zerbrochenen Machtsysteme zu leben.

      Wie weiter in dieser Situation? Vom modernen Wohlfahrtsstaat als Träger der fürsorglichen Daseinsregulierung beerbt, institutionell angesichts schwindender Mitglieds- und Partizipationszahlen eher überproportioniert und zunehmend unterfinanziert und innerhalb einer religiösen Landschaft, von der man nicht genau weiß, ob man eher den Säkularisierungsbefunden oder jenen einer religiösen Individualisierung und Deinstitutionalisierung glauben darf, werden die Kirchen des Westens zu nichts weniger gezwungen denn zur ziemlich weitgehenden Neuerfindung ihrer selbst. Das prekäre Teilnahmeverhalten der eigenen Mitglieder, welche zunehmend die je eigene Biografie und deren spätmoderne Kohärenzprobleme zur primären Bezugsgröße religiöser Plausibilitäten und Praktiken machen, zwingt die Kirchen zum grundstürzenden Umbau ihrer Konstitutionsprinzipien. Die Kirchen haben darin, über lange Zeiträume betrachtet, einige Erfahrung, wohl aber steht ihnen weniger Transformationszeit als früher zur Verfügung.

       2 Pastoralmacht

      1. Sie ist eine Form von Macht, deren Endziel es ist, individuelles Seelenheil in einer anderen Welt zu sichern.

      2. Pastoralmacht ist nicht bloß eine Form von Macht, die befiehlt; sie muß auch bereit sein, sich für das Leben und Heil der Herde zu opfern. Darin unterscheidet sie sich von der Königsmacht, die von ihren Subjekten das Opfer fordert, wenn es gilt, den Thron zu retten.

      3. Sie ist eine Machtform, die sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum während seines ganzen Lebens kümmert.

      4. Man kann diese Form von Macht nicht ausüben, ohne zu wissen, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, ohne ihre Seelen zu erforschen, ohne sie zu veranlassen, ihre innersten Geheimnisse zu offenbaren. Sie impliziert eine Kenntnis des Gewissens und eine Fähigkeit, es zu steuern.102

      Aus den Kirchen wandert damit im Westen gegenwärtig endgültig aus, was Michel Foucault ebenso griffig wie analytisch präzise „Pastoralmacht“ genannt hat. Innerhalb des Christentums konzentrierte sich die Pastoralmacht in der Person des „Hirten“, also des Amtsträgers. Als

      einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat …, vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche Form der Macht.103

      Im Gegensatz zur politischen Macht ist sie auf das Seelenheil des/der Einzelnen gerichtet, im Unterschied zur Macht des Herrschers war sie selbstlos und im Kontrast zur juridischen Macht ging es ihr nicht um die Geltung von allgemeinen Regeln, sondern um den/die Einzelne/n. Kirchliche Pastoralmacht erstreckte sich über das gesamte Leben – von der Wiege bis zur Bahre.

      Was der Hirte auch tut, es ist auf das Wohl seiner Herde ausgerichtet. Ihr gilt seine stete Sorge. Wenn sie schläft, hält er Wache. Das Thema der Wache ist wichtig, denn es bringt zwei Aspekte der Hingabe des Hirten zum Vorschein. Erstens handelt, arbeitet, müht er sich für jene, die da schlafen. Zweitens wacht er über sie. Allen schenkt er Aufmerksamkeit und verliert dabei keines aus den Augen.104

      Foucault weist darauf hin, dass das Christentum damit eine Machttechnik begründete, die sich von vorausgehenden antiken Machttechniken fundamental unterschied und im modernen Staat bis heute wirkt. Der moderne Staat habe sich der ursprünglich christlichen Form der Pastoralmacht bedient und dies schließlich so erfolgreich, dass er die Kirchen als Trägerinnen der Pastoralmacht beerbte. Seit dem 18. Jahrhundert, so Foucault, wanderte die Pastoralmacht hinüber zum entstehenden modernen Staat – und dies genau in der ihr eigenen Doppelfunktion von „Individualisierung“ und „Totalisierung“. Niemals in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften habe es solch eine erfolgreiche Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren innerhalb ein und derselben politischen Struktur gegeben. Das aber liege daran, dass der moderne abendländische Staat die alte christliche Machttechnik, die Pastoralmacht, in eine neue politische Form integriert habe.

      Der primäre Ansatzpunkt kirchlicher Pastoralmacht hat dabei in der Neuzeit einen spezifischen Weg genommen. Er führte vom Kosmos zur Kommunität und schließlich zum Körper. Die kosmisch codierte Selbstverständlichkeit des Christentums wird zuerst in Frage gestellt von Männern wie Galilei, Kopernikus und Kepler, der kirchliche Zugriff auf die (nicht-kirchliche) Kommunität ging mit dem bürgerlichen Gesellschaftsprojekt und somit im 19. Jahrhundert verloren, nachdem schon der Absolutismus des 18. Jahrhunderts sich weitgehend von kirchlichen Bestimmungshorizonten frei gemacht hatte. Zuletzt aber versuchten die Kirchen, etwa über ihre Moralverkündigung, noch Einfluss auf den Körper zu nehmen, auf seine Praktiken und Techniken.105

      Sexueller Missbrauch durch Priester aber pervertiert die Pastoralmacht in Zeiten ihrer Verdunstung endgültig. Denn diese Hirten opfern sich nicht für ihre Herde, sondern opfern Teile ihrer Herde für sich.

       3 Körpermacht: Gottes Niederlage

      Sexuelle Gewalt ist weniger ein sexuelles als ein Machtphänomen. Befragungen von Tätern und Opfern veranschaulichen, daß es den Tätern in erster Linie um Machterleben geht, nämlich darum, sich überlegen zu fühlen, zu demütigen, zu strafen, Wut abzulassen oder die eigene Männlichkeit zu beweisen. Sexualität ist lediglich ein – sehr effektives – Mittel dazu.106

      Sexueller Missbrauch im Rahmen pastoralen Handelns ist Übergriff, Vertrauensbruch und auf Grund des doppelten Machtgefälles (Erwachsener – Kind; „Pastor“ – Pastorierte/r) ein Machtphänomen an sensiblem Ort. Und er ist eine Niederlage Gottes im Handeln des Volkes Gottes und dessen Priester.

      Denn christliche Seelsorge ist nicht irgendein Handeln, sondern Handeln in der Nachfolge der Gottesverkündigung Jesu. Zentrum der Verkündigung Jesu aber ist seine Botschaft vom unmittelbar anbrechenden Reich Gottes. Eine der zentralen Aussagen dieser Botschaft steht in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Dort heißt es: „Selig die Armen, denn ihrer ist die Gottesherrschaft. Selig die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Selig die Weinenden, denn sie werden lachen“ (Lk 6,20b-21).

      Arme, Hungernde und Weinende werden hier ohne irgendeine im engeren Sinne religiöse Qualifikation gepriesen: Ihnen gilt das angekündigte eschatologische Heil. Jesu Seligpreisungen verweisen nicht auf eine unabsehbare Zukunft. Die zugesagte Heilszukunft der Gottesherrschaft ist zwar in ihrer Fülle eine eschatologisch-zukünftige Größe, aber nicht nur bei Gott schon jetzt beschlossen, sondern sie wirkt sich bereits jetzt schon, eben in Kleinen, Machtlosen, den Weinenden aus. Für und in Jesus werden Gott und Gottes politisch-säkulare Dimension, sein Reich, konkrete Praxis. Sie werden Praxis im Wort der Verkündigung dieses Gottes und in den konkreten Taten der Zuwendung Jesu zu denen, die Beistand benötigen, Heilung und Hilfe.

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