An neuen Orten. Rainer Bucher
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Natürlich wissen heute die im Umfeld der dauer(mit)regierenden ÖVP angesiedelten katholischen Kreise, dass es mit dem Kulturkatholizismus nach und nach vorbei ist.85 In Wien etwa haben laut Volkszählung 2001 die Katholiken und Katholikinnen bereits die Bevölkerungsmehrheit verloren.86 Zudem existiert in Österreich immer noch ein relativ starkes sozialistisches Milieu, und die Erinnerung an den Bürgerkrieg im Februar 1934 zwischen „Roten“ und „Schwarzen“ ist noch keineswegs völlig verblasst. Aber die Nähe der kirchlichen Repräsentanten zu wesentlichen Teilen der politischen Macht und umgekehrt die Nähe vieler Politiker zur Kirche, die Alltäglichkeit katholischer Symbole und Riten, die starke kulturelle Prägekraft des Katholizismus, all dies führt immer noch dazu, Österreich als „katholisches Land“ und in Österreich die Wirklichkeit durch eine irgendwie katholische Brille wahrzunehmen, was immer das dann im Einzelnen genau heißen mag.
Mag das alles, wie der aufmerksame Beobachter schnell spürt, viel weniger reale Substanz haben, als es scheint, so belegt doch gerade die aufrechterhaltene Katholizismusfiktion, wie stark das „kulturkatholische“ Konzept nachwirkt. Seine Wahrnehmungsstrukturen sind mehr oder weniger klassisch bürgerlich: wert- und leistungsorientiert, normalisierend und individualisierend und mittlerweile von kirchlicher Partizipation teilweise entkoppelt.
3.2 „Katholikale Reaktion“
Gegen die aufrechterhaltene Katholizismusfiktion des immer noch vorherrschenden und herrschaftsnahen Kulturkatholizismus protestiert(e) nun niemand standhafter als der katholikale Flügel des österreichischen Katholizismus. Seine große Zeit in der jüngeren Kirchengeschichte begann, als Mitte der 1980er Jahre eine Serie von Bischofsernennungen von Rom initiiert wurde, die offenkundig einen kirchenpolitischen Kurswechsel in der österreichischen Kirche einleiten sollte.
Nicht mehr volkskirchliche Durchdringung von Politik und Kultur war das Ziel, sondern markante und profilierte Darstellung „katholischer Positionen“ etwa in Morallehre und Liturgie. Das schloss eine spezifische Distanz zur ÖVP und ihren „kulturkatholischen“ Konzepten ein. Die Nähe der ÖVP zur Aufklärung in einer spezifischen katholizismuskompatiblen Variante ist katholikalen Positionen ausgesprochen fremd. Denn hier rekonstruiert man normalerweise, wie innerkirchlich im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert üblich, eine einzige Abfallsgeschichte von Luther über die Aufklärung, Liberalismus und Marxismus bis in die „hedonistische“, „bindungslose“ und „individualistische“ Gegenwart.
Das Leitmotiv katholikaler Erneuerung ist dabei der Satz: „Alle Macht und Ehre den kirchlichen Amtsträgern“. Paradigmatisch hierfür ist ein Ausspruch, wie er auf der Wiener Seelsorgetagung 1935 fiel: „Es ist katholischer, mit dem Bischof im Irrtum als gegen den Bischof in der Wahrheit zu schreiten“87. Damit ist aber auch schon ein zweites Einflussspezifikum des österreichischen Katholizismus benannt: der katholisch dominierte „Ständestaat“ der Jahre 1934-1938.88
Sicherlich wollte und will die katholikale Renaissance in der österreichischen Kirche keine Erneuerung des autoritären Ständestaates. In einem aber kommen beide Bewegungen überein: Sie reduzieren die katholische Komplexität auf Folgsamkeit gegenüber den kirchlichen Autoritäten. Das reicht bisweilen bis zur direkten Ablehnung von Grundprinzipien freiheitlicher Demokratie. So schlug etwa Kurt Krenn als Wiener Weihbischof eine „missio canonica“ für „katholische Journalisten, die an der Selbstdarstellung der Kirche und ihrer Glaubenslehre in den Medien mitwirken“89, vor.
Gegenwärtig scheint es, als ob die „katholikale Reaktion“ in Österreich an ihrer inneren Unehrlichkeit, ja partiellen Verlogenheit scheitern würde. Sie bleibt aber weiter präsent und aktiv, vor allem in ihren Wahrnehmungsmustern. Denn katholikale Weltwahrnehmung bedeutet, die Welt aus einer festen Ordnung heraus wahrzunehmen und die katholische Komplexität in ihrer durchaus raffinierten österreichischen Variante auf innerkirchliche Gefolgschaft zu reduzieren. In Österreich kommt zudem noch ein spezifischer gesamtgesellschaftlicher Droheffekt hinzu, da bei Protestanten und – vor allem – im linken gesellschaftlichen Spektrum die Erinnerung an den Ständestaat und seine antiliberalen katholischen Prinzipien noch durchaus präsent ist.
3.3 „Reformerische Reaktion“
Österreich, nicht Deutschland, war mit dem „Kirchenvolksbegehren“90 Hauptauslöser der sogenannten „Wir sind Kirche“-Bewegung und damit eines recht öffentlichkeitswirksamen innerkatholischen Reformprozesses. Unter dem Motto „Wir sind Kirche“ ging er von Österreich aus und verbreitete sich mittlerweile in unterschiedlicher Intensität in Europa. Es gibt in Österreich, deutlicher und organisierter als anderswo, in der katholischen Kirche eine „loyale Opposition“. Ihre fast ein wenig naiv anmutenden Grundintentionen sind in den fünf Forderungen des erwähnten „Kirchenvolksbegehrens“91 des Jahres 1995 sehr schön abzulesen. Entstanden waren diese Forderungen als Reaktion auf die damalige katholikale Offensive, und zwar just zum Zeitpunkt von deren beginnendem, wenn auch damals noch nicht unbedingt absehbarem Scheitern.
Das „Wir sind Kirche“-Spektrum der österreichischen Kirche verkörpert exemplarisch das soziale Prinzip „Integration durch Dissens“. Niemand hat das intuitiv schöner ausgedrückt als der (damalige) Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, der Grazer Bischof Johann Weber, als er bei der Übergabe der Unterschriftenlisten davon sprach, diese seien zwar einerseits ein „Alarmzeichen“, aber auch „zugleich ein Zeichen für die Vitalität, wie sie von vielen nicht für möglich erachtet wurde“. Man arbeite „weitestgehend ohne Probleme miteinander in der Kirche und für die Kirche“, das Kirchenvolksbegehren empfinde er als einen „heftigen Impuls, den man zur Kenntnis nehmen muss“.92
Die katholische Komplexität wird im Spektrum der „reformerischen Reaktion“ letztlich reduziert auf einen spezifischen Gegensatz zur Hierarchie auf dem Felde der „Modernität“. Vor allem aber: Man will von ihr Anerkennung und Zustimmung zur eigenen „moderneren“ Auffassung von Kirche und katholischer Religion. Das weist zum einen auf eine hohe Sensibilität für die kognitiven Dissonanzen mancher offiziöser und offizieller katholischer Positionen zu den spezifischen Grundannahmen der freiheitlich-demokratischen Gegenwartsgesellschaft hin, zum anderen aber auch auf eine anhaltend starke Kirchenbindung zumindest dieser Kreise. Anders gesagt: In dieser Generation war und ist die Kirche noch einmal stark genug, um profilierte Opposition zu generieren.
Dass so etwas wie eine organisierte „loyale Opposition“ bleibend innerhalb der katholischen Kirche entstand, hat zum einen mit der erwähnten „katholikalen“ Offensive am Schluss des 20. Jahrhunderts zu tun, zum anderen mit der spezifischen Verfassung des österreichischen Laienkatholizismus. Die Bischöfe Österreichs hatten nach 1945 – in dezidierter Differenz zu Deutschland – die programmatische Entscheidung getroffen, die durch den Nationalsozialismus aufgelösten katholischen Verbände nicht wiederzugründen und stattdessen die hierarchienähere Organisationsform des Laienkatholizismus als „Katholische Aktion“ weiterzuführen.
Sicherlich hat sich mittlerweile der Unterschied zwischen dem deutschen Laien- und Verbandskatholizismus (repräsentiert im Rätesystem und vor allem im „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“93) und der österreichischen, sehr direkt hierarchieangebundenen „Katholischen Aktion“94 etwa aufgrund der nachkonziliaren Emanzipationstendenzen der KA und der unübersehbaren finanziellen Abhängigkeit des ZdK nach und nach nivelliert. Dennoch ist der „offizielle“ österreichische Laienkatholizismus ohne Zweifel immer noch deutlich eingebundener in die kirchlich-hierarchische Willensbildung und unter deren Einfluss als etwa der deutsche Laienkatholizismus, der immer wieder behutsam, aber regelmäßig seine differenten Perspektiven formuliert.95 Immerhin gibt es in Österreich keine primär von den Laien verantworteten „Katholikentage“