An neuen Orten. Rainer Bucher
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Die Kirche darf allerdings davon ausgehen, dass man ihre Berufung, das Volk Gottes zu sein, auch wirklich in ihr erfahren kann; sie muss aber auch davon ausgehen, dass sie selbst dieser Erfahrung im Wege steht. Beides ist in der „Kirche der Sünder und Heiligen“ möglich. Freilich, die Kirche ist auf ihre Botschaft verpflichtet, und diese spricht von der unendlichen Würde des Menschen in der Liebe seines Gottes. Diese Würde ist jedem Menschen gegeben, gerade auch dem Sünder. Sie gilt selbst jenem, der nicht an sie glaubt: ihm besonders.
Dies scheint mir im Übrigen auch die spezifischen pastoralen Handlungskonstellationen wie Beerdigung, Patenamt und allgemeine Seelsorge zu orientieren. Den Heilswillen Gottes einem Verstorbenen zuzusprechen ist geboten, es sei denn, er hat dies ausdrücklich sich verbeten, ebenso in der allgemeinen Seelsorge Ausgetretene als das zu nehmen, was sie sind: Gottes geliebte Kinder, sündhaft und heilig wie nur jeder und jede. Da das Patenamt das explizite „Ja“ zur Botschaft Jesu verlangt, ist dessen Übernahme wohl nur möglich, wenn dieses grundsätzliche „Ja“ trotz des Kirchenaustritts glaubhaft gegeben werden kann und zumindest anerkannt wird, dass die Kirche ein authentischer Ort dieser Botschaft ist.
Dem Konzil gelang der „Schritt über die Grenze“ nicht, weil es in unendlichem Liberalismus alle und jeden eingemeindete, sondern weil es ein Kriterium angeben konnte, das Kirche wie das Außen der Kirche gemeinsam umfasste und dem beide kritisch unterliegen: die hohe Würde des Menschen, seine durch ihn selbst gefährdete, aber gerade durch Gott garantierte Berufung. Aus ihr heraus folgt dann, so das Konzil, auch seine „Berufung zur Gemeinschaft mit Gott“: Sie ist selbst, wie es in Gaudium et spes 19 heißt, „ein besonderer Wesenzug der Würde des Menschen“.
Diese Rede von der Würde des Menschen als von Gott Berufenen bezieht sich nun aber nicht, wie der dogmatische Tauf- oder der kirchenrechtliche Strafrechtsdiskurs, auf die institutionelle Zugehörigkeit zur Kirche, sondern auf den zentralen Inhalt der kirchlichen Botschaft: auf Gott und seine spezifische Verbindung zum Menschen. Damit wird das Verhältnis zu den Ausgetretenen nicht über Kategorien wie Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft definiert, sondern über ihren Status im Zentrum des eigenen religiösen Diskurses und damit auch des eigenen Glaubens.79
Nur so verwickelt sich die Pastoral der Kirche nicht in das Paradox der beiden anderen Zugänge. Denn sie spricht nicht über die Ausgetretenen in Kategorien, welche die Kommunikation mit ihnen gleich wieder in Denunziation oder Vereinnahmung abbrechen lassen, sondern dieser Glaubensdiskurs von der unendlichen Würde des Menschen in der Liebe Gottes fordert gerade dazu auf, den anderen, so wie er ist, zu akzeptieren, so wie Gott es mit uns doch nach unserem Glauben auch tut. Erst auf der Basis dieser vom Glauben gebotenen Annahme der Ausgetretenen durch die Pastoral der Kirche ist dann die, immer ja auch wechselseitige, Korrektur hin zu mehr Glaube, Liebe und Hoffnung möglich.
Kann man in der Kirche erfahren, was sich am Leben ändert, wenn man an diesen Gott glaubt? Kann man in dieser Kirche erfahren, was an unserem Leben auf diesen Gott verweist, was zu seiner Erfüllung auf diesen Gott und seinen weiten Horizont angewiesen ist? Kann man in der Kirche jenes bedingungslose Angenommensein, das der Gott, den wir doch verkünden, uns schenkt und das alleine wirklich Veränderung, Umkehr ermöglicht, auch von uns als Geschenk erleben? Zumindest, dass das große Geschenk Gottes ahnbar wird?
Alle jene, die der Kirche den Rücken kehren, stellen an uns die Frage: Warum haben wir ihnen keinen Himmel und keine neue Erde eröffnet? Warum haben wir ihnen nicht das Geheimnis ihrer Existenz in Gott erschlossen? Warum haben wir ihnen nicht den Weg in das Abenteuer einer Existenz mit diesem Gott zeigen können? Sie fragen nach der Welt erschließenden Kraft unseres Glaubens und nach der Spiritualität unserer Existenz. Um sie müssen wir uns sorgen, nicht so sehr um Zahlen. Um Zahlen müssen wir uns sorgen, wenn sie den Verdacht aufkommen lassen, dass wir mehr zu sein scheinen, als wir sind.
RELIGION ALS WAHRNEHMUNG
Zum österreichischen Katholizismus
1 Der Katholizismus als zerfließendes Wahrnehmungssystem
Religion, die katholische zumal, spielt in Österreich immer noch eine merkwürdig prominente Rolle. Bischofsbesetzungen, in Österreich bekanntlich zeitweise ebenso kontrovers wie polarisierend, werden medial breit diskutiert, weit über den im engeren Sinne kirchlichen Bereich hinaus.80 Kirchliche Akteure wie etwa der Caritaspräsident Franz Küberl81 werden gesellschaftlich aufmerksam wahrgenommen, ihre Stimme zählt, ihr politischer Einfluss ist vor und wohl noch mehr hinter den Kulissen enorm.
Wenn auch ansonsten die in Westeuropa üblichen religionssoziologischen Parameter einer „Kirche in der Krise“ auch für die katholische Kirche Österreichs gelten82 und also religiöse Individualisierung, Kompetenz- und Vertrauensverlust der etablierten Kirchen und stetiger Rückgang der klassischen kirchlichen Partizipationsparameter (Sonntagskirchgang, Taufquoten) hier zu beobachten sind, so gibt es hier doch einige Spezifika, welche die religiöse Lage der katholischen Kirche in Österreich ausmachen.
Diese Spezifika führen dazu, dass die katholische Religion in Österreich dann doch ein wenig anders wahrgenommen wird als anderswo und dass umgekehrt katholische Christen und Christinnen die sie umgebende Wirklichkeit recht spezifisch wahrnehmen. Diese Besonderheiten rühren zum einen aus einer jahrhundertelangen Verbindung von „Thron und Altar“ unter Habsburger Vorzeichen, was zu einer bis vor kurzem unumstrittenen gesellschaftlichen Dominanz „des Katholischen“ führte, einer Vorherrschaft, die gegen die Protestanten in der Gegenreformation wie gegen die Sozialisten im 20. Jahrhundert, wenn es sein musste, auch gewaltsam durchgesetzt wurde.
Zweitens herrschte in Österreich zwischen 1934 und 1938 der offiziell „christlichdeutsche“, de facto aber katholisch dominierte „Ständestaat“. Er berief sich nicht zuletzt auf die Enzyklika Quadragesimo anno Papst Pius’ XI. und war nichts weniger als der gesellschaftliche Großversuch, die damals in der katholischen Kirche vorherrschende paternalistisch-autoritäre, anti-demokratische und anti-liberale Staatsauffassung in die Realität überzuführen.
Drittens aber ist die programmatische Entscheidung der österreichischen Bischöfe zu nennen, die unter dem Nationalsozialismus aufgelösten katholischen Verbände nach 1945 nicht wiederzugründen, sondern jene Organisationsform des Laienkatholizismus weiterzuführen, die bereits im Ständestaat eingeführt wurde und unter dem Nationalsozialismus alleine übrig blieb: die „Katholische Aktion“. Ihr Hauptmerkmal: die direkte Unterordnung der Laienorganisationen unter die Hierarchie.
Viertens aber ist Österreich ein kleines Land mit einer großen Tradition und einer zu großen Hauptstadt, deren staatliche wie gesellschaftliche Machthaber stets einen prägenden Einfluss ausüben, stärker etwa als im dezentral-föderalistischen Deutschland.
Das alles bestimmt sowohl die Wahrnehmung der (katholischen) Religion wie die Religion als Wahrnehmungssystem in Österreich. Ich werde daher im Folgenden auf diese spezifisch österreichischen Bestimmungen des Katholischen eingehen. Vorher aber ist Grundlegenderes und nachher noch etwas Spezielles zu benennen. Das Grundlegende betrifft das „katholische Milieu“83 als defensives Beheimatungs- und daher Wahrnehmungssystem und das Speziellere jene eigene theologische Wahrnehmungswissenschaft, welche die Theologie Österreich verdankt: die Pastoraltheologie.