An neuen Orten. Rainer Bucher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу An neuen Orten - Rainer Bucher страница 11
Die stillschweigende Vorstellung jedenfalls, innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen, muss man jedenfalls aufgeben. Das aber führt zur Frage, wie man die realen Handlungsabsichten und Handlungsinterpretationen der Gläubigen bewertet, wenn sie von den kirchenoffiziellen abweichen und diese Abweichungen, die es früher sicherlich auch gegeben hat, nicht mehr durch kircheninterne Mechanismen in der Latenz gehalten werden können, sondern bisweilen sogar mit einem gewissen Stolz veröffentlicht oder wenigstens durch einschlägige Studien wie die vorliegende öffentlich wahrnehmbar gemacht werden.
Die zwei nahe- und bereitliegenden Reaktionsmechanismen jedenfalls, nämlich die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen entweder zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien interpretatorisch einzuordnen, oder aber deren Träger zu „exkommunizieren“ und ihnen die kirchlichen Handlungen zu verweigern, welcher Weg zwar seltener eingeschlagen, aber doch immer mal wieder versucht wird,50 diese beiden Straßengräben bestimmen zwar das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts des neuen Phänomens einer religiös „unbekannten Mehrheit“, sie können aber nicht als kreative Antwort auf die Herausforderung dieses Phänomens betrachtet werden, im Gegenteil: Sie reagieren zwar auf das Neue der Situation, aber sie reagieren nicht neu, sondern in den Mustern des Alten.
Das ist aber auch solange gar nicht anders möglich, als die neuen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen der Kasualienfrommen primär von ihrer Nähe bzw. Abweichung zu den bestehenden kirchenoffiziellen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen betrachtet werden und nicht auch als (diesmal kircheninterne) „Zeichen der Zeit“, an denen sich die bisherigen kirchlichen Interpretationen und Intentionen, aber auch Formen und Weisen sakramentalen oder sakramentsnahen Handelns weiterzuentwickeln haben.
Vielleicht steht der Pastoraltheologie unter solchen Bedingungen sogar eine „materiale“ Wende bevor, hin zu einer stärkeren Orientierung an dem, was die Tradition, also die Entdeckungen unserer Väter und Mütter im Glauben ausmacht. Denn nur solch eine materiale Orientierung mit stärkerer Nähe zur Systematischen Theologie und Exegese,51 aber auch zur Kirchengeschichte als Geschichte des „geglaubten Gottes“52 macht es möglich, die Tradition als die Geschichte der innovatorischen Entdeckungen des Glaubens aktiv weiterzutreiben, hier in der Form einer Weiterentwicklung des Verständnisses und der Praxis der Sakramente und Sakramentalien jenseits von Rigorismus und Laxismus, jenen letztlich ebenso naheliegenden wie hilflosen Reaktionsweisen.
Studien wie jene von Först/Kügler zwingen die Pastoraltheologie, konkrete innerkirchliche Prozesse hinsichtlich ihrer materialen Nähe und Distanz zum Evangelium zu analysieren und zu qualifizieren. Das muss aber weit jenseits der analytisch qualifikatorischen Einordnungsprozesse liegen, wie sie für das Kirchenrecht typisch sind, das muss sogar jenseits dessen liegen, was die Pastoraltheologie traditionell an praktischer Innovationskraft besitzt, das muss situativ kontextualisiert in jenen Bereich ragen, der traditionell für den dogmatischen Diskurs reserviert ist, also in den Diskurs der intellektuellen Entdeckung und Verantwortung des Glaubens.
Die Pastoraltheologie wird angesichts der Herausforderung einer „unbekannten Mehrheit“ im eigenen Haus mit gänzlich neuen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen von zentralen kirchlichen Ereignissen, wie Sakramente es sind, konfrontiert. Ihr traditionelles Geschäft der (Handlungs-)Optimierung kirchlicher Institutionen oder der Thematisierung der Handlungssituationen und Handlungsprobleme kirchlicher Akteure wird sie dabei überschreiten müssen, hin zu einer Theorie und Praxis der theologischen Qualifikation und Identifikation religiösen (und nicht-religiösen) Handelns, ganz unabhängig von deren Nähe und Distanz der Akteure zu kirchlichen Sozialformen. Sie wird das tun müssen, gerade wenn sie beiden, kirchlichen Institutionen wie kirchlichen Personen, geben will, was sie ihnen schuldet: Perspektiven für die Zukunft des Evangeliums heute.
Dabei aber entsteht ein Problem: Diese Prozesse verlaufen plural und dezentral, sie entziehen sich tendenziell dem generalisierenden wissenschaftlichen Zugriff, eröffnen sich vielmehr erst der pastoralen Reflexion vor Ort. Woraus sich ein konkreter Hinweis für das pastorale Handeln der kirchlichen Hauptamtlichen an der Basis ergibt: Ihre Reaktion auf die Kasualienfrommen sollte weniger von deren Nähe bzw. Distanz zum kirchlich-gemeindlichen Sozialraum gekennzeichnet sein, sondern vom materialen Gehalt des anstehenden Sakraments und der Realität des Lebens der Beteiligten und ihres subjektiven und objektiven Bezugs zu diesem Sakrament.
3.2 Jenseits der „Kirchenzugehörigkeit“: Wohinein die „Kasualien“ führen
Es ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie, dass die Teilnahmebegründung „Das gehört einfach dazu“ offenbar bei Kasualienfrommen wie bei regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gleichermaßen zu finden ist. Während das bei Letzteren natürlich wenig überrascht, so doch umso mehr bei der ersten Gruppe, für die doch kirchliches Partizipationsverhalten normalerweise gerade nicht „dazugehört“. Die These von Johannes Först, es handele sich hier um etwas anderes als nur „um eine eher vordergründige Reminiszenz an frühere Handlungsmuster“53, scheint insofern plausibel, als der Satz „Das gehört einfach dazu“ nunmehr eben nicht mehr dafür steht, kirchliche Handlungsmuster unhinterfragt zu übernehmen, sondern vielmehr gegenläufig „auf Bedeutsames“54 verweist bei Menschen, die zentrale kirchliche Handlungsmuster hinter sich gelassen haben.
Först arbeitet überzeugend heraus, dass jenes „Bedeutsame“, auf das der Satz „Das gehört einfach dazu“ referiert, der Raum ist, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit Hilfe ihrer merkwürdig selektiven, aber doch auch treuen Kasualienfrömmigkeit integrieren. Dieser Raum ist aber entgegen dem Verständnis, das die Kirche mit ihren sakramentalen Handlungen verbindet, nicht die konkrete vorfindliche Kirche oder gar Gemeinde. Das verstört zwar die konkrete Kirche verständlicherweise, kann aber nicht überraschen, schließlich bleiben die Kasualienfrommen diesem Raum ja normalerweise bewusst und also aus subjektiv guten Gründen fern.
Der Raum, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit ihrer Partizipation an kirchlichen Sakramenten und Sakramentalien begeben, ist nicht die Gemeinde, ist nicht die Kirche, ist vielmehr die Welt überhaupt, der Kosmos, ist die Normativität (ihrer) „normalen“ Existenz.
Der Welt, wie sie den IP als ‚gegeben‘ entgegenkommt, wird grundsätzlich positive, zumindest aber lebensrelevante Bedeutung beigemessen. Auch wenn in den Interviews freilich verschiedene Bedeutungsinhalte genannt werden, wird der ‚gegebenen‘ Welt doch eine gewisse ‚Normativität‘ zugestanden (‚Was ist, gilt!‘). In Frage kommen etwa bestehende Gesellschaftsstrukturen und -bereiche, Sinnangebote, Kasualien u. a. Vieles wird nicht zur Disposition gestellt oder erst selbst entworfen. Der Satz „das gehört dazu“ bezieht sich auf dieses Welt- bzw. Lebensverständnis. Er steht für die Vorgehensweise, eigene Handlungsorientierungen in die bestehende, gültige Welt einzuordnen. Mit diesem Einordnungsprozess wird dem eigenen Handeln dann jene Normativität zugeschrieben, welche die Welt als Gegebene im persönlichen Weltverständnis vorgängig besitzt. Der Satz „Das gehört dazu“ kann somit als ‚Ausrufezeichen‘ aufgefasst werden, mit dem die IP die Gültigkeit, nicht etwa Beliebigkeit, ihres Alltagshandelns unterstreichen.55
Damit aber gilt: Die Kasualien „werden als Bestandteile einer gegebenen, gültigen Welt bzw. Gesellschaft aufgefasst, hinter die viele mit ihrem Lebensentwurf nicht zurückgehen.“56 Die „so verstandene Welt wird dann als ‚normal‘ bezeichnet“, wobei dann „Normalität“ und „Normativität“ fließend ineinander übergingen. Der Sonntagsgottesdienst