An neuen Orten. Rainer Bucher
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3 Die zentralen pastoraltheologischen Reflexionsaufforderungen
3.1 Das Problem der Kirchenbildung: Kirche funktioniert offenbar anders, als sie selber möchte
Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und recht eigentlich der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, dass sich die Kasualienfrommen klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.
Klassisch-katholische Kirchenbildung war zumindest seit der Rekonfessionalisierung des 19. Jahrhunderts die tendenziell rückhaltlose Integration in die „societas perfecta ecclesia catholica“. Päpstlich-priesterliche Imperative beanspruchten, das Leben bis in das Privateste hinein zu regeln,43 die jahres- und lebensbegleitenden Riten und Sakramente bedeuteten Schutz und Heimat in der Institutionsfestung Kirche, bedeuteten Integration in eine wirkliche Schicksals-, Glaubens- und Heilsgemeinschaft, die nicht nur synchron, sondern auch diachron universale Züge besaß. Sie zu verlassen, hieß Glauben, Heil und Heimat zu verlassen und soziale Anerkennung zu verlieren, es bedeutete, einem ungewissen Schicksal entgegenzugehen, in der Transzendenz, aber auch schon unter ganz irdischen Bedingungen.
Nachkonziliar gemeindlich-familiaristische Kirchenbildung hingegen wollte und förderte Integration in einen nunmehr (fast) hierarchiefreien Raum voller (Pfarr-)Aktivitäten, (Familien-)Kreise und voller Kommunikation in, zumeist, freundschaftlicher Halbdistanz. Die nunmehr auch in der katholischen Kirche entdeckte Gemeinde wurde als „Pfarrfamilie“ der Emanzipierten und geschwisterlich Verbundenen erhofft und gedacht und zum Teil auch gestaltet. Nachkonziliare Kirchenbildung war nach der vorherrschenden pastoraltheologischen Theorie und zu einem gehörigen Teil auch in der realen Praxis vor allem aktivierende Gemeindebildung. „Lebendige Gemeinde“ wurde zum überwölbenden Schlagwort gerade zu Zeiten beginnender Erosion der (volks)kirchlichen Gnadenanstalt.44
Im gewissen Sinne stellt dabei der regelmäßige Sonntagskirchgang die zentrale Kontinuität zwischen vorkonziliar juridisch-katholischer und nachkonziliar gemeindlich-familiaristischer Kirchenbildung dar. In vorkonziliaren Zeiten war der Sonntagskirchgang die Pflicht zum gültigen Messbesuch, in der gemeindetheologischen Phase bedeutete er die Teilnahme am wöchentlichen Treffen der Pfarrgemeinschaft als liturgischer Gemeindeversammlung mit anschließendem (gemütlichen) Beisammensein. Der (halbwegs) regelmäßige Sonntagskirchgang blieb, was er schon vorkonziliar war: das charakteristische Merkmal katholischer Kirchenzugehörigkeit. Gerade ihn aber stellten die Befragten ein, ohne allerdings sich von der Kirche ganz abzuwenden. Der „biografische Verlauf“, so Först in seinem Resümee, „ist in den Interviews durchgängig: Kindheit und Jugend sind zumeist von einer recht intensiven Phase der Beteiligung am kirchlichen Leben und einer von Frömmigkeit geprägten Alltagswelt gekennzeichnet.“45
Damit zeigt sich: Die katholische Kirche möchte seit einiger Zeit als „Gemeindekirche“ funktionieren, wird von ihrer eigenen Mehrheit aber als rituelle Lebensbegleitungskirche genutzt. Der von der Studie herausgearbeitete Hauptgrund für diese bleibende Nutzung bei alltäglicher Abstinenz, die Hoffnung auf biografischen „Schutz und Segen“ angesichts der Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens, ist plausibel und im Übrigen an sich relativ kompatibel zum kirchlichen Verständnis der Kasualien.
Wie verhält sich nun aber dieses reale Funktionieren der Kirche zu ihrem Selbstverständnis? Natürlich gab es immer eine Differenz zwischen kirchlichem Selbstverständnis und kirchlicher Realität, doch es dürften schwer Zeiten auszumachen sein, in denen das Bewusstsein von dieser Differenz so unabweisbar war und in denen diese Abweichung eben nicht einfach in moralischen Kategorien gefasst werden kann, was sie für die Institution selber ja immer relativ leicht und vor allem folgenlos kommunizierbar macht.
Die zentrale Reflexionsherausforderung für die katholische Pastoraltheologie in diesem Feld dürfte darin liegen, zwei ihrer habituellen Orientierungen zu überschreiten: jene auf die Personen wie jene auf die Institutionen. Vielleicht ist eine der Lehren dieser Studie, dass zukünftig eine stärker inhaltsbezogene Reflexion und Konzeption kirchlichen Handelns seitens der Pastoraltheologie zu favorisieren wäre.
Die Pastoraltheologie ist bekanntlich eine Wissenschaft aus dem Geist der (österreichischen und katholischen) Aufklärung.46 Sie beginnt als Berufswissenschaft des Pastors, als Reflexion seiner ständischen Rechte und Pflichten, als Handlungs- und Klugheitslehre eines institutionellen und im Übrigen staatsnahen und beamtenähnlichen Rollenträgers. Mit der Aufklärung teilt die Pastoraltheologie dabei zum einen den Glauben an die Plan- und Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Prozesse, zum anderen, dass diese Modellierung am schnellsten über die Erziehung einer gebildeten und loyalen Klasse von aufgeklärten professionellen Akteuren ginge. Von daher ist der katholischen Pastoraltheologie ein gewisser Personalismus eigen, der vorkonziliar klerikal zentriert war47 und sich nachkonziliar, wie grundsätzlich nur zu begrüßen, auf der Basis des konziliaren Volk-Gottes-Begriffs und mittels einer Art nachholender Rezeption des modernen Subjektbegriffs auf die unterschiedlichsten Mitglieder der Kirche weitete.
Seit der entwickelten Moderne, bekanntlich die Zeit der exponentiellen Vermehrung der Institutionen, teilt die Pastoraltheologie zudem die neuzeitliche Focussierung auf Institutionen als den zentralen Gestaltungsmomenten gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das beginnt bereits in der „Bürokratisierung“ der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert,48 setzt sich mit dem Aufbau eines hochkomplexen und in sich reich differenzierten „katholischen Milieus“ während der Pianischen Epoche fort, gewinnt einen ersten Höhepunkt mit der (erstmaligen) Einführung eines kirchenweiten Gesetzbuches 1917 und steigert sich gegenwärtig mit der forcierten Rezeption organisationsentwicklerischer Techniken und Instrumentarien in den krisenhaften Transformationsprozessen einer gesellschaftlich „auf den Markt“ gekommenen Religion, wo sich die Kirche in der markttypischen Spannung von individuellem Kundenhandeln und vielfältigen Rahmenregulierungen49 behaupten muss und dazu zunehmend auf entsprechende avancierte Techniken aus Wirtschaft und Verwaltung zurückgreift.
Das ist unter bestimmten Bedingungen alles durchaus sinnvoll und verläuft jedenfalls kongruent zur gesellschaftlichen Entwicklung. Die vorliegende Studie mahnt aber dazu, sowohl den Personalismus der Pastoraltheologie wie ihre Institutionsfixierung zu überschreiten hin zu einer stärkeren materialen Orientierung pastoraltheologischer Reflexion auf die pastorale Qualität von Handlungsprozessen an unterschiedlichsten Orten und von unterschiedlichsten Subjekten.
Denn genau das ist nämlich nun notwendig. Die Subjekte wie die Institutionen werden fließend, verlieren ihre vormalige relative Eindeutigkeit, werden flexibel, unberechenbar, werden gar innerhalb der Kirche zu einer „unbekannten Mehrheit“. Weder Institutionen noch Personen sichern damit länger, was sie doch früher zu garantieren schienen: nicht nur analysier-, sondern auch steuerbare Agenten kirchlichen Handelns zu sein, sei es im Subjekt-, sei es im Objektstatus. Sie entziehen sich solchen Zuschreibungen und bauen eigene, unkontrollierbare, ja unbekannte Handlungs- und Interpretationsmuster auf.
Das muss Konsequenzen für die pastoraltheologische Reflexion von Handlungssituation und Handlungsaufgabe der Kirche haben. Die bislang in der Pastoraltheologie übliche Konzentration auf die institutionellen Strukturen und Mechanismen kirchlichen Handelns wie die Konzentration auf die personalen Träger dieses Handelns kommt an ihre Grenzen, wenn seitens der Einzelnen mit den Institutionen frei umgegangen wird und auch Personen unberechenbar, ja unbekannt werden.
Innerhalb der pastoraltheologischen Konstitutionstrias Person – Situation – Tradition scheint in Zeiten der Verflüssigung alter personaler und institutioneller Sicherheiten eine gewisse neue Schwerpunktsetzung auf die Tradition, wenn auch