An neuen Orten. Rainer Bucher

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An neuen Orten - Rainer Bucher

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Evangelium, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben. Das ist unsere pastorale Chance.

      Diese neuen Zeiten der Gegenwart sind für das pilgernde Volk Gottes eine große Herausforderung, denn das autologische Dispositiv zwingt die Kirche, eine ziemlich neue Konstitutionsform ihrer selbst zu entwickeln und dabei ihre Aufgabe nicht zu verraten, weder an den Markterfolg, noch an die kleingläubige Resignation des Autoritarismus. Das ist die kirchliche Herausforderung.

      Diese Zeiten sind aber auch eine große Gnade. Denn sie versprechen neue Entdeckungen der alten Wahrheit des Evangeliums und das im hilfreichen Kontext der Demut.

       DIE PROVOKATION ANNEHMEN

       Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen?

       1 Außenperspektiven können schmerzen

      Damit sie für das Wohl der Gläubigen … geeigneter sorgen können, sollen sie sich bemühen, ihre Bedürfnisse in den sozialen Umständen, in denen sie leben, richtig kennenzulernen, wobei sie dazu geeignete Mittel anwenden sollen, besonders der Sozialforschung.

      So heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe, Christus Dominus 16. Wer immer das mittlerweile zu einer gewissen Berühmtheit gelangte „Milieuhandbuch religiöse und kirchliche Orientierungen“ beim Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision in Auftrag gegeben haben mag – das „Handbuch“ selbst nennt die kirchennahe MDG Medien-DienstleistungsGmbH sowie die KSA Katholische Sozialethische Arbeitsstelle Hamm, unter „Beratung“ figurieren allerdings auch Mitglieder des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz oder etwa der Pressesprecher Kardinal Meisners –, man muss ihm ohne Zweifel dankbar sein.

      Zwar können die Ergebnisse den halbwegs aufmerksamen Beobachter der gesellschaftlichen Szene(n) nicht wirklich überraschen und den oder die pastoral Tätige(n) auch nicht, besteht die Erhebungsmethode doch im Kern aus protokollierten und analysierten Gesprächen mit „Normalbürgern“ zu Lebenssinn, Religion und Kirche. Dies ändert aber nichts am exemplarischen Wert der Studie, denn sie leistet, was die katholische Kirche so dringend braucht: den wertvollen Dienst der Außenperspektive.

      Freilich: Solche Außenperspektiven können schmerzen, wie ein Spiegel, eine Rezension oder die Beichte. Sie präsentieren auch nicht einfach die Wahrheit an sich, sondern spezifische Fremdblicke auf die eigene Wirklichkeit. Damit eröffnet sich der Kontrast von Fremd- und Eigenperspektive: Wie man auf diesen Kontrast reagiert, hat seinerseits Diagnosecharakter. Die Differenz von Fremd- und Eigenperspektive ist aber der genuine Ort intellektueller Erkenntnis und zugleich jener geistlicher Demut. Beidem ist die Kirche verpflichtet.

      Die Untersuchung geht von zwei plausiblen Grundannahmen aus: zum einen, dass die situative Integration der Kirchenmitglieder jede normativ regulierte Kirchenmitgliedschaft abgelöst hat,19 mithin also auch katholische Religionspraxis unter den Individualisierungszwang moderner Lebensführung geraten ist; zum anderen, dass „Individualisierung“ nicht voraussetzungslose Wahlfreiheit, sondern Entscheidung auf der Basis neuer Integrationsmechanismen bedeutet. Schließlich müssen es moderne Biografien irgendwie schaffen, das Übermaß an Wahlmöglichkeiten zu bewältigen.

       2 Sociovision hat der Kirche einen Marktlagebericht geliefert

      Seit Gerhard Schulzes berühmter Studie Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart20 stehen dabei lebensstilorientierte „Milieus“ im Mittelpunkt des Interesses. Deren konkreter Zuschnitt ist relativ sekundär: Bei Schulze waren es fünf solcher Milieus, bei Sociovision sind es zehn. In ihrer bildlichen Signifikanz haben sie bei allem Stereotypieverdacht nicht nur einen gehörigen Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert, nicht zuletzt, wenn man versucht, den eigenen Lebensentwurf einzuordnen.

      Schon beim Bamberger Soziologen Schulze war dabei zu lernen, dass im Unterschied zu vormodern traditionalen Gesellschaften und auch zur weltanschaulich versäulten deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Milieuzugehörigkeit in „Lebensstilmilieus“ von den Beteiligten grundsätzlich als selbst gewählt erfahren wird, so sehr dies dem kritischen Außenblick auch als Selbstverblendung erscheinen mag. Der methodische Ansatz der Sociovisions-Studie kombiniert nun diese Milieutheorie mit einem einfachen Dreistufenschema der sozialen Lage und gelangt so zu einer ebenso plastischen wie differenzierten Matrix, in der die „Milieus“ mit Bezeichnungen „illustrativen Charakters“21 wie „Bürgerliche Mitte“, „Traditionsverwurzelte“ oder „Konservative“ situiert sind. Deren jeweilige religiöse und kirchliche Orientierungen erhebt die vorliegende Untersuchung.

      Die Ergebnisse sind für die katholische Kirche einigermaßen provokativ. Bekommt sie doch bestätigt, dass sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung offenbar nur noch in jenen drei eben genannten Milieus, die ca. 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, verwurzelt ist und das noch nicht einmal langfristig stabil. In allen anderen Milieus stößt die katholische Kirche dagegen weitgehend auf Desinteresse oder gar Ablehnung: Dort glaubt man in der Kirche nicht zu finden, was man an Religion nachfragt, wenn man denn Religion nachfragt, was allerdings, vielleicht mit Ausnahme der „DDR-Nostalgischen“, bei den meisten Menschen immer noch der Fall zu sein scheint.

      Mit anderen Worten: Sociovision hat der Kirche geliefert, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann, einen Marktlagebericht. Das ist in jeder Hinsicht konsequent, schließlich vergesellschaftet sich Religion in entwickelten modernen Gesellschaften nicht mehr in herkunftsbezogenen Schicksalsgemeinschaften, sondern zunehmend über marktgesteuerte Mechanismen.

      Die Ergebnisse der Sinusstudie sind einigermaßen ernüchternd. Man braucht freilich nur die eigene kirchliche Statistik zu konsultieren, erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinen zu befragen oder etwa die ausgesprochen instruktive, von Johannes Först und Joachim Kügler herausgegebene Studie Die unbekannte Mehrheit, Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben22 zur Kenntnis zu nehmen, um bestätigt zu bekommen, was auch Sociovision herausgefunden hat: Mit der Marktgängigkeit der katholischen Kirche steht es hierzulande trotz eindrucksvoller diakonischer Präsenz nicht besonders gut.

      Damit bestätigt sich, was in Pastoraltheologie und Religionssoziologie schon länger diskutiert wird. Die Sinusstudie pointiert aber eine Erkenntnis: Die katholische Kirche steht nicht einem, gar „dem“ modernen Milieu gegenüber, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus mit teilweise konträren Erwartungen an sie. Schärfer noch: Die Kirche selbst ist in das Spannungsfeld differenter Milieus geraten und kann sich nur noch in wenigen Milieus wirklich vermitteln, während sie andere schon kaum mehr erreicht.

      Die weltanschaulich versäulte Gesellschaft der Weimarer Zeit, katholisch auch in der Nachkriegszeit noch ausgesprochen reststabil, wurde also abgelöst von einer Gesellschaft lebensstildifferenzierter Milieus. Diesen Differenzierungsprozess konnte die Kirche aber, wie es scheint, schlicht nicht mitvollziehen, was dann als „Milieuverengung“ der Gemeinden (Michael N. Ebertz) beschrieben werden kann.

       3 Kirche ist nicht nur Pfarrgemeinde

      Freilich ist die Kirche nicht nur (Pfarr-)Gemeinde. Als solche und als bischöfliche Hierarchie scheint sie aber in der Sociovisions-Untersuchung primär auf, was insofern korrekt ist, als sie inner- wie außerkirchlich primär genau so wahrgenommen wird. Die Studie bezieht sich denn auch vor allem auf diese beiden kirchlichen Handlungssektoren, insofern sie Wahrnehmungseinschätzungen abfragt. Viele andere Handlungsfelder der Kirche jedoch, allen voran die Caritas, aber auch

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