An neuen Orten. Rainer Bucher
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In dieser Lücke existieren auch Reste eines spezifischen „Linkskatholizismus“. Der reduziert die katholische Komplexität – hierin übrigens gut katholisch – auf die polaren Auseinandersetzungsbögen mit der Hierarchie und ihre vermeintlichen oder realen Anachronismen und Selbstwidersprüchlichkeiten. Es geht um solch alte Themen wie Sexualität und Zölibat, „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“ oder „Geschwisterlichkeit in der Kirche“, also schlicht um die Forderungen bürgerlicher Zeitgenossenschaft.
Die Weltwahrnehmung dieser „linkskatholischen“ Kreise ist geprägt von christlichem Sozialengagement, der Suche nach „Mündigkeit“ als Gabe der katholischen Hierarchie und überhaupt der Hoffnung, endlich als das anerkannt zu werden, was man wirklich sein will: zutiefst katholisch.
3.4 „Hierarchieinduzierte geistliche Erneuerung“
Ein Letztes: Österreich ist ein kleines Land mit einer großen Geschichte und einer, nach dem Verlust des Habsburgerreiches, viel zu großen Hauptstadt. Deren Bischöfe (respektive: Kardinäle) dominieren in Österreich die inner- wie außerkirchliche Wahrnehmung von katholischer Kirche. Das galt für den bis heute von praktisch allen innerkatholischen Gruppen (außer den „Katholikalen“) nachhaltig verehrten Kardinal König (Erzbischof in Wien von 1956-1985, Kardinal ab 1958), das gilt für den gegenwärtigen Kardinal Christoph Schönborn (Erzbischof seit 1995, Kardinal seit 1998). Letzterer prägt die österreichische Kirche nun allerdings mit einer eigenen Richtung, die in ihrer Spezifität weder volkskirchlich-kulturkatholisch noch „katholikal“ noch – natürlich – „reformkatholisch“ ist. Wiewohl Kardinal Schönborn offenkundig Kontakt zu allen drei Richtungen hält, verkörpert und favorisiert er selbst eine vierte, eher weltkirchlich importierte denn original österreichische Richtung: die charismatisch-spirituelle.
„Geistliche Erneuerung“ aus dem Geist der „Geistlichen Bewegungen“96 ist hier das Ziel, Mittel sind dynamisierende Events wie etwa die „Stadtmission“ 2003 in Wien. Das alles geht von der Hierarchie, speziell von Kardinal Schönborn aus, ist mittlerweile in der einen oder anderen Variante vielerorts präsent, nirgendwo aber wirklich dominant in der pastoralen Realität, nicht einmal in Wien. Der jugendliche und bisweilen unbekümmerte Enthusiasmus dieser Bewegungen, die Erfahrung von Gemeinschaft und „fröhlichem Glauben“ in Übereinstimmung mit der kirchlichen Hierarchie sind durchaus attraktiv, aber auch in ihrer Wirkung reichweitenbegrenzt. Zu sehr entsprechen sie einer spezifischen Spiritualität und Mentalität, als dass sie den „Kulturkatholizismus“ als volkskirchliche Basisstruktur der österreichischen katholischen Kirche ersetzen könnten.
Die Weltwahrnehmung dieser charismatischen Kreise ist geprägt von demonstrativer Glaubens- und Lebensfreude, einer grundsätzlichen Weltbejahung und vom Wissen der Möglichkeit, etwa über das Bußsakrament (hier „Sakrament der Versöhnung“ genannt) in eine grundlegende Übereinstimmung mit sich, der Welt und Gott zu kommen. Katholische Komplexität wird reduziert auf die Erfahrung von begeisterter gemeinschaftlicher Religiosität, auf ein ein wenig dualistisches, wenn auch nicht manichäisches Weltbild und auf die freudige Wahrnehmung der Segnungen einer alten, erfahrenen und mit einem ungeheuren Schatz von Ästhetiken, Ritualen, Diskursen und Personen ausgestatteten Institution, einem Schatz, den man sich ziemlich freihändig aneignet.
4 Vielleicht eine Wahrnehmungshilfe: Die Pastoraltheologie, ein Fach aus Österreich
Katholizität ist Komplexität – und österreichische gleich gar. Dazu gehören aber Mechanismen der Komplexitätsreduktion, und da sich das einheitliche „katholische Milieu“ der Pianischen Epoche zunehmend zerlegt, zerfällt auch die österreichische katholische Kirche zunehmend in unterschiedliche Gruppierungen, die sich tatsächlich nicht zuletzt durch ihre Weltwahrnehmung unterscheiden dürften.
Nun hätte Österreich für diese komplexe Situtation, in die nicht nur der österreichische Katholizismus hineingeraten sein dürfte, aber auch eine spezifisch österreichische Wissenschaft anzubieten: die Pastoraltheologie. Denn wie immer man die lange und wechselreiche Geschichte dieses recht unfestgestellten Faches der Theologie auch beschreiben und wie immer man die Gründe für sein Entstehen analysieren will:97 Die Pastoraltheologie ist eine österreichische Erfindung. Ihr Gründungsproblem, der Bruch von Tradition, Situation und Person, wurde in der Politik entdeckt, es war die Kaiserin Maria Theresia, die dieses Fach 1774 initiierte.
Die Pastoraltheologie ist der Versuch der Kirche, von sich nach dem Ende ihrer Selbstverständlichkeit etwas zu wissen. Das kann man aber nur, wenn man sich nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit neuen, fremden Augen sehen kann. Die Gründungsfrage der Pastoraltheologie war der aufklärerische Riss zwischen theologischer Tradition, Person und aktuellem Handeln. Dieser Riss aber ist ein Phänomen der Gegenwart – und nur bei ihrer sehr ehrlichen und unverschleierten Wahrnehmung erkennbar. Man hat ihn, merkwürdig genug, zuerst in der katholischen Aufklärung Österreichs gesehen und vor allem die Konsequenzen daraus gezogen.
In ihrem Kern ist die Pastoraltheologie damit von Anfang an als praktische Disziplin und als Disziplin auf der Schwelle zur Zukunft wesentlich auch eine Gegenwarts-Wahrnehmungswissenschaft.98 Denn niemand kann in der Gegenwart handeln, ohne von ihr etwas zu verstehen.
Vielleicht könnte sie ja, konzipiert als Kultur- und damit Wahrnehmungswissenschaft des Volkes Gottes,99 eine Hilfe für die katholische Kirche sein, ihre eigenen Wahrnehmungsmuster von Welt selbst analytisch beobachten zu können und so jenseits aller homogenisierenden Ordnungen der Vergangenheit so etwas wie eine Wahrnehmungsrationalität zweiter Ordnung in die Komplexität ihrer eigenen Wahrnehmungsmuster zu bringen.Es ginge also darum, sich selbst im eigenen Wahrnehmen zu beobachten. Um damit vielleicht die Komplexität der eigenen Tradition vor den Reduktionen eines drohenden „ideologischen Zeitalters“ in der Kirche zu retten.
MACHTKÖRPER UND KÖRPERMACHT
Die Lage der Kirche und Gottes Niederlage
Bostons Erzdiözese verkauft die bischöfliche Residenz, um mit dem Erlös Opfer sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Mitarbeiter zu entschädigen, wie der Boston Herald berichtet. Das Gebäude aus den 20er Jahren samt Park sei nach Maklerangaben umgerechnet 20 Millionen Euro wert. Insgesamt steht die Erzdiözese vor Zahlungsforderungen von umgerechnet mehr als 70 Millionen Euro. Ein Großteil der Summe soll aus Versicherungszahlungen aufgebracht werden. Mit dem Verkauf wolle die Erzdiözese beweisen, dass die Zahlungen für Missbrauchsopfer ‚nicht aus Spenden oder Pfarreibeiträgen kommen‘, zitiert das Blatt einen Sprecher.100
1 In Ruinen: Der Machtkörper Kirche 101
Den Ruin der Kirchen in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften erwarteten beide: der Marxismus wie, etwas vornehm-zurückhaltender, der Liberalismus. Beide scheinen sich einigermaßen getäuscht zu haben.
Und dennoch: Die katholischen Kirchen des Westens erleben ihre Lage als ausgesprochen krisenhaft. Dies ist nicht weiter verwunderlich und geschieht zu Recht. Vor allem macht der Kirche die epochale Umstellung der Vergesellschaftungsform des Religiösen in den entwickelten Gesellschaften zu schaffen. Das „Nutzungsmuster“ von Kirche hat sich bei ihren eigenen Mitgliedern grundsätzlich gewandelt. Es bricht zur Zeit jenes „konstantinische“ Konstitutionssystem der Kirchen zusammen, das sie immerhin seit der Spätantike durch alle geschichtlichen Brüche hindurch stabil und gleichzeitig flexibel gehalten hatte.