Schweigen über Köln. Maren Friedlaender
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»Und der Wagen, belgisches Kennzeichen, oder?«
»Ja, genau. Die Nummer habe ich an die Zentrale gegeben. Die recherchieren.«
»Toll, dass überhaupt jemand zum Recherchieren da ist. In den letzten Tagen war ich allein auf weiter Flur. – Da der Tote sich wohl kaum nach dem Kopfschuss auf den Beifahrersitz rübergeschoben hat, suchen wir nach einem Fahrer, richtig?«
»Richtig. Aber ich wäre dankbar, wenn wir wenigstens wüssten, wer der Tote ist«, nörgelte Bär. Er sah Arbeit auf die Abteilung zukommen. Unbekannte Tote machten erfahrungsgemäß mehr Umstände als die identifizierten. Manche der Unbekannten verschwanden in den Archiven auf nimmer Wiedersehen, andere Untote tauchten Jahre später wieder auf, konnten plötzlich zugeordnet werden. Hoffentlich machte das Opfer vom Stadtwald weniger Ärger.
Auf der Stelle treten
Sie tappten im Dunkeln – seit Tagen. Sie hatten nichts, fast nichts. Den Halter des Wagens konnten sie schnell identifizieren. Ein Mitarbeiter des Belgischen Rundfunks in Eupen, Robert Cremer. Rosenthal hatte die junge Kollegin Burrenscheidt zu dem Redakteur geschickt.
Eva Burrenscheidt war ein üppiges Vollweib mit blonden schulterlangen Haaren und verschmitzten blauen Augen. Die Jeans saß knackig, die Bluse auch. Sie war in Marco Bärs Alter, Mitte 30. Die männlichen Kollegen legten in ihrer Gegenwart eine Überbietungshaltung an den Tag. Theresa Rosenthal mochte die neue Mitarbeiterin, fand es aber besser, sie sporadisch zu Außenrecherchen zu schicken, damit die Herren mal wieder an die Arbeit gingen und sich nicht wie die Gockel produzierten.
Der Redakteur in Eupen hatte der jungen Kommissarin willig Auskunft gegeben. Cremer hatte seinen Wagen eine Woche vor dem Wiederauftauchen am Kölner Stadtwald als gestohlen gemeldet. Für die Tatzeit in Sachen Mord legte er ein wasserdichtes Alibi vor. Während der Unbekannte am Stadtwald erschossen wurde, saß Cremer im Rundfunk vor dem Mikrofon. Er berichtete live über das Thema Lebensmittelverschwendung: Jeder belgische Haushalt entsorge im Jahr Lebensmittel im Wert von 174 Euro in die Abfalltonne. »In der Wallonie werfen wir in diesem Jahr wieder Essbares im Wert von 1,4 Milliarden Euro effektiv weg. Jeder von uns muss sich darüber Gedanken machen, sein eigenes Gewissen erforschen«, forderte Cremer gerade in dem Moment, als sich das Drama am Kölner Stadtwald in seinem dunkelroten Renault abspielte. Die vollgestopften Plastiktüten hatten sich im wiederentdeckten Wagen übrigens nicht angefunden, was Robert Cremer zusätzlich verärgerte. Eine Lebensmittelverschwendung, die ihn schuldlos traf. Um sich aufzumuntern, lud er die Kommissarin Burrenscheidt zum Mittagessen ein. Ein kleiner Flirt – musste seine Ehefrau nicht erfahren. Eva lehnte freundlich ab. War vielleicht besser für Robert. Eupen war klein, und ein Geheimnis ließ sich dort schlecht hüten.
»Warum macht sich jemand die Mühe, ein Auto in Belgien zu klauen, um darin in Köln einen Mann umzubringen?«, überlegte Bär daheim im Kommissariat. »Fälscht nicht einmal das Kennzeichen.«
»Frag mich was Leichteres«, maulte Rosenthal. »Vielleicht hat er einen Hass auf Renaults.« Sie war genervt, weil sie in dem Fall kein Stück vorwärtskamen. In solchen Situationen gab es kräftig Druck von oben. »Mein erster Wagen war übrigens ein alter Renault 4, mittelblau, kastenförmig, mit so einer komischen Knüppelschaltung am Armaturenbrett, unglaublich, die Scheibenwischer musste ich mit der Hand bedienen.«
»Sag mal, in welchem Jahrhundert bist du geboren?«, staunte Bär.
»Die Kiste übernahm ich von einem älteren Cousin, so ein 68er, der auf den umgeklappten Rücksitzen die Mädels vernascht hatte. Ich fand zwischen den Sitzen tatsächlich einen schwarzen BH«, erinnerte sich Rosenthal. Ihre Laune hob sich kurzfristig, bis sie auf den aktuellen Fall zurückkamen.
Die KTU hatte magere Ausbeute geliefert. Das Mordopfer war Mitte 50. Der Mann trug Kleidung, die man in jedem Aldi, H&M-Laden oder bei Kik kaufen konnte. Sie hatten die Hersteller herausbekommen, aber in den Einkaufszonen jeder mittelgroßen Stadt gab es Filialen. Adidas-Turnschuhe – Massenware. Fingerabdrücke nicht in der Datei. In den Zähnen ein paar Plomben, die jeder Zahnarzt verfüllt haben konnte. Raucher. Kein Ehering. Kein Tattoo. Kein Handy. Wenn das Opfer irgendetwas bei sich trug, was die Identifizierung erleichtert hätte, dann hatte der Täter es mitgenommen. Ein Profi.
Ein Profi, ein Profi, hämmerte es im Kopf der Kommissarin Theresa Rosenthal.
Sie las den Bericht des Gerichtsmediziners. Das Abendessen des Ermordeten hatte aus einer Currywurst und einem Bier bestanden. Herkunft unbekannt. Noch nicht ganz verdaut. Vielleicht könnten sie die Imbissbuden in der Umgebung abklappern und ein Foto des Ermordeten vorzeigen. Was hatte sie noch? Alkoholpegel des Toten: 0,1 Promille. Guter Gesundheitszustand. Lange Lebenserwartung, wenn da nicht das Loch im Kopf gewesen wäre. Die KTU hatte die Kugel vom Kaliber 7,65 Millimeter im Türrahmen des PKWs gefunden. Sie passte zu einer Walther PPK.
Ein Sack voll Weisheiten und nützliche Informationen
Theresa erreichte Tante Clarissa beim Morgentee. Zwölf Uhr vormittags. Frühstückszeit bei der alten Dame.
»Wieso sollte ich beim ersten Hahnenschrei aufstehen, da ist die Welt für eine Olle wie mich noch geschlossen«, erklärte die Tante.
»Wo gibt es denn Hähne bei dir in Köln-Marienburg?«, spottete Theresa.
»Du wirst lachen, jemand in der Nachbarschaft hält Pfauen, die schreien viel schrecklicher als Hähne, aber egal, ich verstehe nicht, warum alte Leute gern so früh auf den Beinen sind. Präsenile Bettflucht.« Sie lachte ihr raues, amüsiertes Lachen, das voller Weisheit und Humor steckte. »Abends, wenn die Kinder und Enkel mit uns chatten wollen, sind die meisten Oldies bereits in den Federn. So wie deine Mama.« Die Betonung lag auf dem letzten »a«. Das klang distinguiert.
Tante Clarissa sagte wirklich chatten. Theresa konnte sich nicht vorstellen, dass ihre eigene Mutter überhaupt wusste, was das war, geschweige denn, es praktizierte. Jede Modernisierung war in den Augen ihrer alten Dame Teufelszeug. Sie war Mitte des vergangenen Jahrhunderts stehen geblieben. Das erklärte Theresa der Tante.
»Deine Mutter verließ den Geburtskanal ziemlich schlecht gelaunt. Als sie den Arzt erblickte, rümpfte sie ihr hübsches Näschen und sagte: ›Mir geht es gar nicht gut, im Übrigen ist mir hier alles zu vulgär – und wer sind Sie überhaupt, junger Mann?‹« Clarissa lachte erneut heiser, während sie kräftig an ihrem Zigarillo zog, das konnte Theresa durch das Telefon hören. Es machte wohl keinen Sinn, eine über 90-Jährige vor Gesundheitsrisiken zu warnen.
»Ach Kind«, hatte sie bei der letzten Ermahnung geantwortet, »Gesundheit ist doch nur die langsamste Form zu sterben.«
Der nahende Tod war mittlerweile Thema Nummer eins bei all ihren Telefonaten. Theresa verstand, dass man sich im Alter von 93 täglich mit seinem Ableben beschäftigte, was Clarissa mit ungebrochen guter Laune tat. Zudem übermittelte sie bei jedem Zusammentreffen eine Todesnachricht aus dem Umfeld. In ihrem Alter hatte man ziemlich alle Verwandte und Freunde überlebt.
»Katharina ist gestorben«, bekam Theresa beim aktuellen Telefonat mitgeteilt.
»Welche Katharina?«
»Katharina Kramer.«
»Ach, die Katharina.«
»Wusste seit vielen Jahren schon nicht mehr, wie sie heißt und wer sie ist. Die Ärmste. Der Tod tut nicht weh, das Leben tut es«, erklärte die Tante. Weisheiten, die man in Gesprächen mit ihr en passant mitgeliefert