Der Pontifex. Karla Weigand

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Der Pontifex - Karla Weigand

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jetzt ernten müssen, als Konsequenz aller Nachgiebigkeit und der um sich greifenden Aufweichtendenzen: zahlreiche Kirchenaustritte, viel weniger Kindstaufen, weil die Heranwachsenden später, welch ein Humbug!, selbst entscheiden sollen, ob sie überhaupt Christen sein wollen. Wenn ich das schon höre! Und das im christlichen Europa. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

      Ich behaupte: Der Glaube muss bereits im Kleinkind angelegt werden, damit er sich tief einwurzelt in der Seele des Betreffenden. Damit ist gewährleistet, dass es dem Getauften später um ein Vielfaches schwerer fallen wird, der Kirche den Rücken zu kehren. Die kindlich-naive Erinnerung wird sich in ihm regen und ihm immer wieder die angenehmen Augenblicke gemütvoller Erlebnisse wie die folkloristischen Feste Weihnachten und Ostern vor Augen führen.“

      Carlo di Gasparini schnappt nach Luft.

      Freund Ewald Klausmann beginnt sich jetzt ernsthaft um seinen Kardinalskollegen zu sorgen. Wenn der so weitermacht, könnte ihn tatsächlich noch der Schlag treffen. Aber so leicht gibt di Gasparini nicht auf.

      „Des Weiteren erleben wir einen besorgniserregenden Rückgang bei den Priesterweihen und kaum noch Eheschließungen vor dem Altar. Ja, mittlerweile legen viele nicht einmal mehr Wert darauf, christlich beerdigt zu werden. Wozu noch ein Geistlicher am Grab? Ein bezahlter und vorher genau über gewünschte Lobhudeleien instruierter Redner vom Begräbnisinstitut tut’s doch auch … Schöne Aussichten, Ewald. Willst du das tatsächlich?“

      Der deutsche Kardinal weiß nicht recht, wie er darauf reagieren soll. Natürlich will er das nicht …

      „Schau“, fährt der Italiener beinahe verzweifelt fort: „Die Heiligen Väter, die einst Johannes XXIII. nachgefolgt sind, haben zwar zum Teil die Talfahrt der Kirche ein wenig gebremst, aber aufgehalten hat den Erdrutsch letztlich keiner. Ich als Papst hätte es zumindest mit aller Macht versucht. Was Leo Africanus bestimmt nicht tun wird. Seine allererste Predigt ließ mich noch hoffen, aber außer viel heißer Luft ist da nichts gewesen. Addio, Sancta Ecclesia!“

      „Diese Schwarzmalerei beziehst du ohne weiteres auf unseren neuen Heiligen Vater, Carlo? Wer sagt denn, dass er in der Zukunft tatsächlich so ein Weichei sein wird, mein Freund?“, gibt Ewald Klausmann zu bedenken. „Warten wir doch erst einmal ab und reden in einem oder zwei Jahren erneut darüber. Dann werden wir alle vielleicht ein Stück weit klüger sein, nicht wahr, Carlo?“

      Und um dem Ganzen etwas von der Schärfe zu nehmen – und den Freund vor einem möglichen Herzinfarkt zu bewahren – schlägt er dem anderen vor, nun gemeinsam die Oratio zu verrichten, das Tagesgebet.

      Der einstige Studienkollege des Kardinals von Padua, Ewald Klausmann, in diesem Monat dreiundsechzig Jahre alt, zum Oberhirten des Erzbistums Köln ernannt und derzeit in Rom auf Erholungsurlaub (die Lage in Köln ist, nun ja, schwierig, könnte man es vorsichtig ausdrücken), sowie sein cholerischer italienischer Amtsbruder breiten die Arme aus, wie sie es auch jeden Tag am Altar zu tun pflegen, wenn sie mit ausgestreckten Armen Jesus am Kreuz nachahmen und damit zum Ausdruck bringen wollen, alle Menschen an ihr Herz zu ziehen.

      „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“

      (Johannes I, 4. 16)

      „Einfach skandalös und lächerlich!“

      Wütend knallt der aus Neapel stammende Kurienkardinal Ettore di Logelli-Branca sein Smartphone auf den Tisch in seinem prächtigen römischen Appartement mit großer Dachterrasse, nahe der Engelsburg.

      Was er da wieder in den „sozialen Netzwerken“ lesen muss, widert ihn regelrecht an: Ein skandalöser Starkult samt höchst fragwürdiger Lobhudeleien hat sich in kürzester Zeit um die Person des Heiligen Vaters entwickelt; beinahe so, als ginge es um einen Hollywoodstar …

      Der von etlichen hohen Geistlichen nach wie vor geradezu als schweres Übel empfundene Wahlvorgang in der Sixtinischen Kapelle, der der Kirche einen „Schwarzen“ zum Papst beschert hat, schlägt insgeheim in Rom immer noch hohe Wellen.

      Bei Kurienkardinal di Logelli-Branca haben sich seine engsten Vertrauten eingefunden, hohe Geistliche aus europäischen Ländern, von denen die meisten allerdings, im Gegensatz zu ihm, bei einer Papstwahl nicht stimmberechtigt sind.

      Im Grunde ihres Herzens sind sie alle Traditionalisten, die die Meinung vertreten, ein „anständiger“ Papst müsse gemäß der guten alten Tradition immer ein Italiener sein. Die letzten drei „Ausreißer“, ein Pole, ein Deutscher und ein Argentinier hätten weiß Gott gereicht. Der letzte, immerhin ein Sizilianer, hatte zwar keinen Schaden angerichtet, aber ein Gewinn für die Institution Kirche war auch er keineswegs gewesen. Bestenfalls war er als „unbedeutend“ einzustufen; außerdem hatte er nicht allzu lange den Papstthron besetzt, da der Herrgott dem Argentinier extrem viele Lebensjahre beschert hatte.

      „Und was hat man jetzt? Leo XIV. ist die absolute ‚Krönung’ des Desasters, in dem die Kirche sich seit langem befindet“, lautet Logelli-Brancas ehrliches Urteil, das er allerdings nur sich selbst eingesteht.

      Zuerst muss der Kardinal das in den Augen seiner Freunde ebenfalls verstörende Wahlergebnis irgendwie rechtfertigen – was ihm erst nach einer Weile so halbwegs zu gelingen scheint. Ist er doch selbst immer noch über den Ausgang der Wahl verstört. Schließlich schwört der Kardinal sogar, als einer der ganz wenigen nicht für Obembe gestimmt zu haben …

      „Wie zum Teufel konnte das erlauchte Gremium denn zu dieser geradezu sittenwidrigen Entscheidung gelangen?“ Das fragt ein hoher amerikanischer Geistlicher irischer Abstammung ganz gerade heraus. Man ist ja schließlich „unter sich“. (Manche flüstern hinter vorgehaltener Hand, der ehrenwerte Reverend sei ein Förderer, wenn nicht sogar Mitglied des Ku-Klux-Klans …)

      Diese existenziell enorm wichtige Frage treibt die anwesenden Herren allesamt um, auch wenn sie nicht jeder so drastisch wie der Amerikaner formuliert.

      Nach den zahlreichen geheimen Vorgesprächen unter den italienischen Kardinälen galt es doch als ausgemacht, dass man auch dieses Mal dem Drängen von Laien und vieler „modern eingestellter“ Geistlicher nicht nachgeben wolle, sondern wie bisher, wenn es denn schon kein Italiener sein solle, wenigstens einem Papst mit weißer Haut den Vorzug geben werde.

      „Die Kirche bedarf keines farbigen Revolutionärs, sondern eines behutsamen europäischen Erneuerers“, war allgemeiner Konsens in ihren Kreisen gewesen. Und in geradezu unanständiger Eile hatte dann trotz allem das betrübliche Ergebnis festgestanden …

      „Ich sehe schwarz für die Zukunft der Una Sancta“, äußert sich ein anderer Prälat aus Deutschland besorgt.

      „Na, dann passt es ja! Noch schwärzer als ‚Leo Africanus’ kann schlechterdings kaum etwas sein …“, sagt einer der geistlichen Herren aus der unzufrieden murrenden Runde mit einem Anflug von Galgenhumor. Der Spitzname, den Carlo di Gasparini Leo XIV. angehängt hat, scheint sich in Windeseile verbreitet zu haben.

      Über die Gründe des Fiaskos herrschen diverse Zweifel. Hatte man womöglich im Vorfeld zu wenig Druck auf die Kardinäle, die zum Konklave zugelassen waren, ausgeübt? Oder war dieser im Gegenteil vielleicht zu stark und penetrant ausgefallen? Bei nicht wenigen zieht bekanntlich die sanfte Tour, verbunden mit Versprechungen oder Aussichten auf fette Pfründe und sonstige monetäre und andere Vergünstigungen, viel stärker. War man sich zu sicher gewesen, dass alles wieder zum Altbewährten zurückkehren werde?

      Eine befriedigende Antwort weiß derzeit niemand.

      Dazu

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