Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Группа авторов
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Der Zeitgeist des 19. Jh. war zunehmend durch naturwissenschaftlichen Naturalismus und geisteswissenschaftlichen Historismus geprägt. Diese Konstellation führte in Deutschland (insbesondere in |76|der historischen Phase zwischen 1871 und 1918) auf der einen Seite – neben den Entkirchlichungs- und Dechristianisierungstendenzen, die auch durch die aus der Industriellen Revolution resultierenden Neujustierungen der sozialen Ungleichheit befördert wurden[64] – zur Etablierung eines weltanschaulichen Pluralismus. In dessen Horizont entstanden zahlreiche Weltdeutungs- und Sinnentwürfe, deren Anspruch auf Orientierungskraft und Zukunftsfähigkeit sich mit einer dezidierten »Abdankung der traditionellen Leitbilder« verband.[65] Auf der anderen Seite kam es auch innerhalb des protestantischen Wissenschaftsmilieus zu massiven »theologischen Richtungskämpfen«, in denen sich »die ›Krisenherde‹ des Kaiserreichs […] in verkleinerter Form und in entsprechender Spezifik« abbildeten[66] und die sich regelmäßig als ein Ringen zwischen Konservativen und Modernen um kirchliche Lehr- und Bekenntnisfreiheit artikulierten.
In diesem Zusammenhang kann der sog. Apostolikumstreit des Jahres 1892 als ein historischer Kulminationspunkt gelten.[67] Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand bekanntlich Adolf von Harnack, »ein Stern erster Ordnung am Wissenschaftshimmel des deutschen Kaiserreichs und nach dem Tode Albrecht Ritschls (1889) wichtigster Repräsentant der ›Modernen‹«,[68] der 1888 gegen den Willen des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats von Marburg nach Berlin berufen worden war.[69] Den Anlass des Apostolikumstreits bildeten die Vorgänge um den württembergischen Pfarrer Christoph |77|Schrempf (Leuzendorf), der dem Dekanat Blaufelden am 5. Juli 1891 mitgeteilt hatte, er vermöge »einige Artikel des Glaubensbekenntnisses nicht als ein Bekenntnis auszusprechen« und habe sich daher »entschlossen, dies auch nicht mehr an heiliger Stätte in heiligen Handlungen zu tun«.[70] Die damit angezeigte Verweigerung der Verwendung des Apostolikums in Taufgottesdiensten, die Schrempf alsbald zu einer grundsätzlichen Weigerung des Taufvollzugs zuspitzte, führte zu einem Amtsenthebungsverfahren. In einem Erlass des Landeskonsistoriums vom 3. Juni 1892 wurde Schrempf schließlich mitgeteilt, dass der württembergische König Wilhelm II. seine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst ohne Pensionsbezüge zum 14. Juni 1892 verfügt hatte.[71]
Die Causa Schrempf schlug Wellen bis nach Berlin. Eine Abordnung von Theologiestudenten wandte sich an Harnack mit der Frage, »ob er ihnen raten könne, mit andern preußischen Studenten der Theologie in Anlaß des Falls Schrempf eine Petition an den Evangelischen Oberkirchenrat zu richten um Entfernung des sogenannten Apostolikums aus der Verpflichtungsformel der Geistlichen und aus dem gottesdienstlichen Gebrauch«.[72] In Harnacks Votum, das zu einer »Flut teilweise übler Polemik«[73] in Gestalt von »Schmähschriften, von Spottgedichten und Abkanzelungen« führte,[74] sind drei Aspekte von besonderer Bedeutung.
|78|a) Harnack erklärt die Parole »Das Apostolikum soll abgeschafft werden« für kontraproduktiv. Denn sie würde »zur Waffe in der Hand der Gegner des Christentums werden, würde dem hohen religiösen Werte und dem ehrwürdigen Alter des Apostolikums gegenüber eine Ungerechtigkeit sein, würde ferner eine Vergewaltigung der evangelischen Christen bedeuten, die ihren Glauben […] im Apostolikum ausgedrückt finden, und würde endlich der Art nicht entsprechen, in der sich die Kirchen der Reformation zu den Glaubenszeugnissen der Vergangenheit gestellt haben« (670: Nr. 3).
b) Neben diesem – wenn man so will – konservativen Argument schärft Harnack aber auch ein, dass eine »Anerkennung der Apostolikums in seiner wörtlichen Fassung« keineswegs »eine Probe christlicher und theologischer Reife« ist (670: Nr 6). Vielmehr ist der Anstoß an bestimmten Bekenntnisformulierungen für den gebildeten Christen sogar unvermeidlich. Insbesondere aus der Formulierung ›Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria‹ ergibt sich ein »Notstand […] für jeden aufrichtigen Christen«. Gleichwohl hält es Harnack für »eine haltbare und sittlich zu rechtfertigende Position«, wenn jemand, »der an jenem Stück und an ähnlichem Anstoß nimmt«, dennoch »in der Kirche, sei es auch als Lehrer, bleibt« (671: Nr. 8).
c) Die Warnung vor Abschaffungsparolen (a) und die Einschärfung der Kritisierbarkeit des Symbols (b) werden schließlich flankiert durch die – gleich am Anfang des Textes formulierte – Perspektive auf ein neu formuliertes Bekenntnis, »das das in der Reformation und in der ihr folgenden Zeit gewonnene Verständnis des Evangeliums deutlicher und sicherer ausdrückte und zugleich die Anstöße beseitigte, die jenes Symbol [sc. das Apostolikum] in seinem Wortlaut vielen ernsten und aufrichtigen Christen, Laien und Geistlichen, bietet« (669: Nr. 1).
Der hier an dritter Stelle genannte Aspekt ist von besonderem Interesse. Harnack selbst hat auf die reformatorischen Wurzeln seiner Idee aufmerksam gemacht. In einem Zusatz zu seiner aus Anlass des Apostolikumstreits verfassten und in zahlreichen Auflagen erschienenen Abhandlung »Das apostolische Glaubensbekenntnis«[75] |79|hat er erwähnt, dass Luther in sein »Taufbüchlein«[76] gerade nicht die tradierte Gestalt des Apostolikums übernommen hatte, »sondern eine verkürzte Form desselben, die aus dem frühen Mittelalter stammt« (42). Dabei fehlen bemerkenswerterweise insbesondere im zweiten Artikel nahezu alle Formulierungen, die für den denkenden Christen der Moderne eine Zumutung darstellen könnten.[77] Zugleich stand Harnacks Vorschlag in der Tradition der auf der Preußischen Generalsynode von 1846 – freilich unter ganz anderen Vorzeichen – durch Karl Immanuel Nitzsch vorangetriebenen Bemühungen um die Formulierung eines Ordinationsgelübdes, das faktisch ein Unionsbekenntnis darstellte.[78] Der äußerst umstrittene und polemisch als »Nitzschenum« bezeichnete Vorschlag[79] wurde seinerzeit jedoch von König Friedrich Wilhelm IV. abgelehnt.
Harnack selbst hat bis ins hohe Alter an seiner Idee festgehalten. Dabei richteten sich seine späten Hoffnungen auf die erste Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung, die vom 3. bis 21. August 1927 in Lausanne stattfand und an der er aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. »Sein großes Anliegen trug er der Konferenz schriftlich vor: Die Konferenz möge ein neues, kurzes, |80|schlichtes Bekenntnis formulieren, in dem über die Person Christi das ausgesagt würde, was alle freudig und aus wahrhaft gläubigem Herzen bekennen können.«[80] – Zu einem solchen Bekenntnis ist es bekanntlich weder im Kontext der 1892er Auseinandersetzungen noch zu einem späteren Zeitpunkt gekommen. Insofern sind zwar einerseits »alle Fragen, die der Apostolikum-Streit vom Jahr 1892 aufgeworfen hatte, […] noch heute offen«.[81] Andererseits kann gerade der Verzicht auf die Formulierung eines neuen Bekenntnisses als ein faktisches Anknüpfen an Schleiermachers »gewohnheitsmäßig-lockere Auffassung der Bekenntnisverpflichtung«[82] betrachtet werden – und damit zugleich als Aufnahme seiner Bedenken im Blick auf die Formulierung eines zeitgemäßen protestantischen Symbols.