Soziale Netzwerke. Jan Arendt Fuhse
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1.1 Netzwerkforschung
Der Fokus des vorliegenden Buchs liegt auf der empirisch orientierten Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften. Deren Aufstieg in den letzten 60 Jahren hat wohl den Siegeszug der Netzwerkmetapher im öffentlichen Diskurs mitgetragen. Sie will aber eigentlich etwas anderes: Ihr geht es um die empirische Untersuchung von sozialen Strukturen mit Blick auf die Beziehungsgeflechte zwischen den beteiligten Akteuren.1
Eine beeindruckende Reihe von Studien zeigt in ganz unterschiedlichen sozialen Bereichen Effekte von sozialen Netzwerken:
Oft werden Arbeitsstellen über ganz bestimmte soziale Beziehungen (»weak ties«) gefunden (Granovetter 1973: 1371ff).
Auch innerhalb von Unternehmen fördern bestimmte Positionen in persönlichen Netzwerken den beruflichen Aufstieg (Burt 1992: 115ff).
Soziale Beziehungsnetze bestimmen den Wechsel von Regimes – etwa von der Republik zur Herrschaft der Medici im Florenz der Renaissance (Padgett/Ansell 1993).
Für den Erfolg sozialer Bewegungen braucht es soziale Netzwerke zur Rekrutierung von Aktiven (McAdam 1988; Opp/Gern 1993) wie auch zur Bildung von Koalitionen zwischen unterschiedlichen Bewegungsorganisationen (Osa 2003; Baldassari/Diani 2007).
Die Liste ließe sich lang fortsetzen. Netzwerke spielen offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen – zwischen Individuen, aber auch zwischen Organisationen – und in ganz verschiedenen Phänomenen eine wichtige Rolle. Diese empirisch nachgewiesenen Effekte sind ein Beleg für die wichtige Rolle von Netzwerken im Sozialen.
Hinzu kommt, dass es uns sehr leicht fällt, in Netzwerken zu denken. Wir alle können uns intuitiv etwas unter einem Netzwerk von Sozialbeziehungen etwa in einer Schulklasse oder in einem Unternehmen vorstellen.
[15]Empirische Befunde und intuitive Zugänglichkeit sind die großen Pluspunkte des Netzwerkbegriffs. Um beide ist seit den 1950er-Jahren eine reichhaltige und interdisziplinäre Forschungstradition entstanden. Erste systematische Verwendung fand das Netzwerkkonzept in der britischen Sozialanthropologie. Schnell wurden in der Soziologie und in der Mathematik Verfahren für die formale Analyse von Beziehungsmustern entwickelt. Diese wurden u. a. in der Politikwissenschaft, in der Pädagogik, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft aufgenommen. In den letzten Jahren wendet sich sogar die Physik der Modellierung sozialer Netzwerke zu.
(a) Was ist ein Netzwerk?
Was aber genau ist ein soziales Netzwerk? Rein formal-mathematisch besteht ein ➔Netzwerk aus Knoten und aus Verbindungen (»Kanten«) zwischen ihnen. Im hypothetischen Beispielnetzwerk in Abbildung 1 sind die Knoten a bis p in 24 Verbindungen miteinander verknüpft.
Angewandt auf soziale Netzwerke bedeutet das: Akteure sind die Knoten, und die Verbindungen zwischen ihnen stehen für Sozialbeziehungen. Dabei bleibt zunächst offen, um was für Akteure oder Sozialbeziehungen es geht.
(1) | Soziale ➔Beziehungen können ungerichtet oder symmetrisch sein (wie im Beispielnetzwerk). Dies erwarten wir etwa für Freundschaften, Liebesbeziehungen oder auch für Konflikte. Daneben gibt es verschiedene, oft asymmetrisch angelegte Beziehungsarten wie Zuneigung, Loyalität oder [16] Machtbalancen. Allgemein bestehen Sozialbeziehungen aus beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren. Diesen Regelmäßigkeiten liegen meist entsprechende Erwartungen zugrunde (Fuhse 2009a: 52ff). |
(2) | ➔Akteure sind oft Individuen. Aber auch Organisationen oder Staaten können als Knoten in sozialen Netzwerken auftreten. Wie im allgemeinen Sprachgebrauch geht es um soziale Einheiten, denen wir Handeln zurechnen und bei denen wir erwarten, dass sie sich gegenüber anderen sozialen Einheiten unterschiedlich verhalten. So beobachten wir derzeit zwischen den Staaten Deutschland und Frankreich eine bessere Beziehung als zwischen Deutschland und China. |
Abb. 1: Hypothetisches Beispielnetzwerk
Quelle: Eigene Darstellung
Definition: Ein soziales Netzwerk steht für das Muster an Sozialbeziehungen zwischen einer Menge von Akteuren. Sozialbeziehungen bezeichnen beobachtbare Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren und entsprechende Verhaltenserwartungen.
(b) Forschungslogik und Abgrenzungen
In der praktischen Forschung bedeutet das: Soziale Phänomene werden mit Blick auf das Muster von Sozialbeziehungen untersucht. Andere Aspekte wie die Verteilung von Attributen und Ressourcen, Kultur und Normen sind dabei nicht völlig unwichtig. Aber sie werden gegenüber den Beziehungsnetzen als zweitrangig betrachtet oder auch als Effekte derselben.
Insbesondere das individuelle Verhalten erscheint als Folge der Position im Netzwerk – und nicht als direkt bestimmt durch kategoriale Zugehörigkeiten (Geschlecht, ethnische Herkunft), durch individuelle Attribute (Alter, Bildung, Einkommen) oder durch Gruppenkultur und Normen (Ideologie, erwartete Verhaltensweisen, formale Rollen).
Teilweise werden diese anderen Aspekte sozialer Phänomene mit Blick auf Zusammenhänge zu sozialen Netzwerken untersucht. Gesucht wird dann nach den Ursachen oder nach den Folgen bestimmter Netzwerkpositionen. Immer aber bleiben Netzwerke zentraler Erklärungsfaktor sozialer Phänomene.
Drei Abgrenzungen sind dabei besonders wichtig:
(1) | Erstens misstraut die Netzwerkforschung grundsätzlich den Selbstbeschreibungen von sozialen Strukturen. Oft sehen die Beteiligten ihr soziales Umfeld als aufgeteilt in soziale Schichten oder Klassen (wie etwa in dem Artikel von J. A. Barnes über ein norwegisches Fischerdorf, in dem er das erste Mal das Netzwerkkonzept vorstellt; Barnes 1954; siehe 2.8). Ein[17] Blick auf die sozialen Netzwerke zeigt meist keine Trennung nach Schicht oder Klasse, sondern primär lokal basierte Beziehungen (wie bei Barnes oder auch bei Gould 1995). Mustafa Emirbayer und John Goodwin sprechen von einem »anti-kategorischen Imperativ« der Netzwerkforschung (1994: 1414): Den verfügbaren Kategorien zur Selbstbeschreibung sozialer Strukturen wird misstraut und möglichst unvoreingenommen und empirisch nach Strukturprinzipien in Netzwerken gesucht. |
(2) | Zweitens grenzt sich die Netzwerkforschung deutlich von der statistisch orientierten Umfrageforschung ab (Wellman 1983: 165). Diese wird oft einfach als »empirische Sozialforschung« bezeichnet und teilweise verächtlich als »Variablensoziologie« tituliert. In Umfragen werden typischerweise mindestens 1.000 Individuen mit standardisierten Fragebögen nach Attributen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Beruf und Bildungsstand oder auch nach Einstellungen und Präferenzen (z. B. zur Wahlentscheidung) befragt. Das Ergebnis ist eine Datenmatrix von Individuen mit verschiedenen Ausprägungen von Attributen, Einstellungen und Präferenzen. Diese Ausprägungen werden dann mit statistischen Verfahren auf systematische Zusammenhänge untersucht. Zum Beispiel: Inwiefern hat das Geschlecht einen Einfluss auf das Einkommen oder auf die Wahlentscheidung? |
Die Netzwerkforschung kritisiert an dieser Vorgehensweise zwei Punkte: Zum einen seien soziale Strukturen nicht auf prinzipiell isolierte Individuen (mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen) reduzierbar. Zum anderen liefere die Analyse von Zusammenhängen zwischen Merkmalsausprägungen ein irreführendes Bild des Sozialen: Selbst wenn statistisch ein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Einkommen nachgewiesen wird, blieben die dahinter liegenden
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