Soziale Netzwerke. Jan Arendt Fuhse

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Soziale Netzwerke - Jan Arendt Fuhse

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Moreno lieferten unter anderem Fritz Heider und Kurt Lewin wichtige Impulse. Diese kamen aus der Gestaltpsychologie – einer Forschungsrichtung, die sich auf das psychische Erkennen von Strukturmustern (»Gestalt«) konzentriert. Beide wendeten sich nach ihrer Emigration in die USA der Sozialpsychologie zu und untersuchten das Wechselspiel zwischen psychischen Vorgängen und sozialen Kontexten.

      Bereits kurz nach seiner Emigration in die USA schlug Kurt Lewin eine Formel vor, der zufolge das individuelle Verhalten von Eigenschaften der Person und von ihrem jeweiligen Umfeld abhängt (1936). Zu diesem Umfeld gehört insbesondere die Einbettung in Relationen mit anderen – das »soziale Feld«. Heute gilt Lewin als einer der Väter der Feldtheorie in den Sozialwissenschaften (Martin 2003). Die Idee ist, dass sich Akteure an Personen in ihrer Umgebung orientieren und ihr Verhalten daran ausrichten. Die Strukturen des Felds lassen sich als Netzwerkbeziehungen analysieren (DiMaggio 1986; Powell et al. 2005). Des Weiteren entwickelte Lewin das Konzept der »Gruppendynamik« (1947): Mitglieder einer Gruppe können sich so gegenseitig beeinflussen, dass sich ihr Verhalten nicht mehr aus den isolierten Eigenheiten und Dispositionen der Beteiligten, sondern aus ihrem Zusammenwirken erklärt.

      Vielleicht der wichtigste Schüler Lewins war Leon Festinger. Für die Netzwerkforschung sind vor allem Festingers Studien von Interesse, die zeigten: Soziale Beziehungen bilden sich meistens dort, wo Menschen aufeinander treffen – also etwa im privaten Wohnumfeld (Festinger et al. 1950: 34ff). Dieses Prinzip wurde später von Scott Feld als Fokus-Theorie verallgemeinert (1981): Soziale Beziehungen entstehen an Orten mit gemeinsamen Aktivitäten – sogenannten ➔»Aktivitäts-Foki« (siehe 10.2).

      Auch Fritz Heider untersucht die soziale Einbettung von Einstellungen. Heider zufolge versuchen wir in unseren Einstellungen gegenüber Objekten [29] in eine Balance mit unserem sozialen Umfeld zu gelangen (1946): Wir bewerten tendenziell solche Objekte positiv, die auch von Mitmenschen positiv bewertet werden, die wir selbst mögen. Zum Beispiel orientieren wir uns an den politischen Einstellungen unserer Freunde und Familienmitgliedern. Umgekehrt sehen wir tendenziell solche Objekte negativ, die auch unsere Freunde nicht mögen. Auch dies ist eine Form möglicher Balance. Eine dritte Form besteht zwischen Menschen, die sich nicht mögen. Von diesen müssten Objekte diametral entgegengesetzt bewertet werden, um ihre Einstellungen in Balance zu bringen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Abneigung gegen Personen, die eine uns unsympathische Partei wählen.

      Diese Überlegungen bleiben bei Heider sehr abstrakt und noch in der Form von Hypothesen. Für die Netzwerkforschung wurde eine Weiterentwicklung seiner Balance-Theorie wichtig. Den Lewin-Schülern Dorwin Cartwright und Frank Harary zufolge lassen sich Heiders Überlegungen auf reine Beziehungskonstellationen übertragen (1956): Drei Akteure haben entweder nur positive Beziehungen untereinander (z. B. Freundschaft). Oder sie haben zwei negative Beziehungen und eine positive – ich werde mich also mit dem Feind meines Feindes verbünden, oder mich mit dem Feind meines Freundes oder Verbündeten ebenfalls verfeinden. Der erste Fall heißt »positiveTransitivität«, der zweite »negative Transitivität« ( Tabelle 1).

      Positive Beziehungen sind mit [+], negative mit [-] markiert.

      Quelle: Eigene Darstellung

      [30] Definition: Netzwerkstrukturen sind in Balance in dem Maße, in dem die Beziehungen zwischen Akteuren konsistent positiv oder negativ sind. Positiv transitiv sind Netzwerke, wenn Akteure positive Beziehungen miteinander haben, die auch indirekt positiv verbunden sind. In negativ transitiven Netzwerken ist eine Sozialbeziehung negativ, wenn die Beteiligten indirekt über je eine positive und eine negative Beziehung verbunden sind, und sie ist positiv, wenn die Beteiligten indirekt über zwei negative Beziehungen verbunden sind.

      Unterschiedliche Beziehungskonstellationen lassen sich nun daraufhin untersuchen, wie ausbalanciert sie sind. Netzwerke sind in Balance, wenn die beteiligten Akteure ➔Triaden mit positiver und negativer Transitivität bilden. Aus der Balance-Theorie ergeben sich zwei Hypothesen:

(1)Netzwerke neigen dazu, sich durch die Formierung von neuen Beziehungen oder die Auflösung von alten Beziehungen auszubalancieren.
(2)Bestehende Netzwerkstrukturen sind überwiegend ausbalanciert.

      Beide Hypothesen sind in empirischen Studien etwa in Schulklassen recht gut belegt. Allerdings gelten sie hauptsächlich innerhalb abgeschlossener Kontexte, in denen man etwa dem Feind eines Freundes nicht einfach aus dem Weg gehen kann (Martin 2009: 42ff).

      Lewin, Festinger und Cartwright forschten ab 1945 am neu gegründeten Center for Group Dynamics am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das ein wichtiges Zentrum für die Untersuchung von Gruppenprozessen wurde.

      Seit circa 1930 initiierten Elton Mayo und W. Lloyd Warner an der Harvard University – in direkter Nachbarschaft des MIT – die Untersuchung von Netzwerken in Organisationen und in Gemeinden (siehe nächster Abschnitt).

      Mayo und Warner kamen beide aus Australien und waren dort während ihres Studiums in Kontakt mit dem strukturalen Denken des Anthropologen A. R. Radcliffe-Brown gekommen (Scott 2000: 16ff; siehe 2.8). Der Fokus der Forschung von Elton Mayo lag auf der Entwicklung von Organisationen (Unternehmen, Verwaltung etc.). Dabei ging es um die Optimierung von Arbeitsprozessen. Dafür wurden informale Strukturen von Freundschaften zwischen Mitarbeitern als wichtig erachtet. Entsprechend untersuchte Mayo mit seinem Team informale Beziehungen, die sie als »human relations«[31] bezeichneten. Aus diesem Ansatz wurden einige empirische Studien wichtig für die Netzwerkforschung:

       Die Hawthorne-Studie – behandelt die Arbeitsorganisation und informalen Beziehungen in einem Elektrizitätswerk. Die Autoren rekonstruieren hier unter anderem informale Beziehungen (Freundschaften, Antagonismen) und die Beteiligungen an sozialen Ereignissen (Spielen, Konversationen, praktischen Hilfen) zwischen den 14 Arbeitern im sogenannten »Bank Wiring Room« (Roethlisberger/Dickson [1939] 1964: 501, 503f, 506f).

       Mayos Kollege William Foote Whyte untersuchte informale Beziehungen in einer Straßengang in Boston – ebenfalls mit frühen Soziogrammen, aber ohne statistische Analysen ([1943] 1993: 13, 49, 156, 184, 188).

       In der von Lloyd Warner angeleiteten Gemeindestudie Deep South wurden die Cliquenstrukturen zwischen afro-amerikanischen Frauen in »Old City« untersucht (Davis et al. 1941: 147ff). Deren Zugehörigkeit zu ➔Cliquen zeigte sich in der gemeinsamen Teilnahme an Veranstaltungen.

      Hier finden wir das erste Beispiel für ein sogenanntes ➔Two-Mode-Netzwerk: In dem Netzwerk gibt es zwei Arten von Knoten: Akteure und Ereignisse. Beziehungen laufen immer von Akteuren zu Ereignissen und umgekehrt – nie direkt zwischen zwei Knoten der gleichen Art. Die Afro-Amerikanerinnen sind also untereinander nur über die gemeinsame Teilnahme an Ereignissen verbunden (und die Ereignisse umgekehrt nur über die Afro-Amerikanerinnen; Tabelle 2). Um die Zugehörigkeit der Frauen zu Cliquen zu rekonstruieren, sortierten Davis und seine Ko-Autoren die Reihen für die Akteure und die Spalten für die Ereignisse in der Netzwerkmatrix neu. Akteure mit gemeinsamer Teilnahme an Ereignissen und Ereignisse mit den

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