Soziale Netzwerke. Jan Arendt Fuhse

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Soziale Netzwerke - Jan Arendt Fuhse страница 9

Автор:
Серия:
Издательство:
Soziale Netzwerke - Jan Arendt Fuhse

Скачать книгу

Ethnologen auf die »Kultur« der von ihnen untersuchten indigenen Stämme. Kultur sei selbst nicht beobachtbar, anders als die konkreten Sozialbeziehungen.(2)Zudem fokussiert er sich auf »tatsächlich bestehende« und empirisch beobachtbare Beziehungen. Dies widerspricht etwa der Sichtweise des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Auch er sieht soziale Struktur in »Kommunikationskanälen«, also in sozialen Beziehungen ([1952] 1962). Allerdings sucht er dahinter liegenden Regeln, die als »Tiefenstruktur«[36] für das beobachtbare Beziehungsgeflecht verantwortlich sind. Ein Beispiel dafür sind Verwandtschaftsstrukturen. Diese zeigen sich zwar in empirisch beobachtbaren Familienbeziehungen. Aber dahinter stehen kulturelle Regeln für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Generationen.

      Die britische Sozialanthropologie folgt den beiden Grundintentionen von Radcliffe-Brown und fasst soziale Netzwerke als das Muster von empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen.

      (b) Netzwerkbegriff bei Barnes

      Ein Artikel von J. A. Barnes liefert 1954 die erste Ausformulierung und empirische Anwendung des Netzwerkbegriffs. Barnes untersucht die soziale Struktur in einem norwegischen Fischerdorf (Bremnes). Diese Struktur sieht er als ➔Netzwerk und bezieht sich explizit auf das graphentheoretische Modell einer Menge von Punkten, die mit Linien verbunden werden (Barnes 1954: 43f). In Bremnes gehören hierzu (abgesehen von formalen Arbeitskontexten) »Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen«.

      Die Bewohner von Bremnes bezeichnen ihre soziale Struktur als aufgeteilt in drei Klassen oder Schichten. Barnes findet mit seinen ethnographischen Beobachtungen eher ein homogenes und dicht gestricktes Netzwerk ohne große Rangunterschiede. Insofern folgt Barnes in seiner Studie bereits dem von Emirbayer und Goodwin formulierten anti-kategorischen Imperativ (siehe 1.3): Die Selbstbeschreibung der Bewohner mit ihren drei Kategorien von Klassen wird hinterfragt und mit der empirisch beobachtbaren Netzwerkstruktur konfrontiert. In dieser bestehen eben keine Trennlinien zwischen Klassen, sondern vor allem lokal basierte Sozialbeziehungen.

      Weitere wichtige Arbeiten behandeln Netzwerke von Ehepaaren in London (Bott 1957) und die Verstädterung in Afrika. Auffällig oft geht es um soziale Strukturen im Wandel, insbesondere durch den Kontakt zwischen Indigenen und westlicher Moderne.

      (c) Konzeptionelle Integration bei Mitchell

      In der Folge wurde J. Clyde Mitchell der wichtigste Autor der britischen Sozialanthropologie. Schon 1974 monierte er das Fehlen einer Theorie sozialer Netzwerke, die die zahlreichen empirischen Arbeiten flankieren und leiten könnte (1974: 281ff). Zudem schlug er vor, die formale Netzwerkanalyse durch die Untersuchung von Sinn, Normen und Institutionen zu erweitern (1973: 27ff). Der Vorschlag einer Zusammenschau von Netzwerkstruktur und Kultur – genau dem Bereich, von dem sich Radcliffe-Brown mit dem[37] Netzwerkbegriff abwandte – wurde in der Ethnologie erst ab den 1990er-Jahren aufgenommen, etwa von Thomas Schweizer (1996).

      Der Netzwerkbegriff in der frühen britischen Sozialanthropologie markiert also folgende Herangehensweisen:

(1)Der Fokus wird auf die Struktur von Sozialbeziehungen gelegt statt auf kulturelle Eigenheiten und Unterschiede. Insbesondere wird den kulturellen Selbstbeschreibungen misstraut (im Sinne des anti-kategorischen Imperativs).
(2)Soziale Struktur besteht aus tatsächlich bestehenden und empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen, nicht aus dahinter vermuteten Regeln (wie bei Lévi-Strauss, s. o.).

      Soziale Netzwerke werden vor allem qualitativ rekonstruiert auf der Basis einer ethnographischen Einbettung der Ethnologen in ihren Forschungsgegenstand (siehe 9.3). Erst spät übernehmen die Ethnologen die quantitativen Methoden der ➔formalen Netzwerkanalyse.

      Der kurze Überblick über die Entwicklung der Netzwerkforschung ist nun abgeschlossen. Dabei ging es im Rahmen dieses Lehrbuchs vor allem um einen Überblick über wichtige Themen und um, die Herangehensweisen der frühen Autoren der Netzwerkforschung. Mit diesem Überblick zeigt sich: Schon bis zu den 1950er-Jahren wurden alle vier in diesem Buch behandelten Ansätze verfolgt:

(1)Anstöße für die Theorie sozialer Netzwerke (Kapitel 11) kommen aus der formalen Soziologie von Georg Simmel, dem symbolischen Interaktionismus, der Figurationssoziologie von Norbert Elias und der Gruppentheorie von George Caspar Homans. Anschließend wurde die Theoriearbeit eher vernachlässigt.
(2)Viele frühe Arbeiten untersuchen Netzwerke eher qualitativ (Kapitel 9). Dazu gehören die ethnographischen Methoden der Sozialanthropologie, aber auch historische Quellenstudien bei Elias.
(3)Die Gemeindestudien um Warner und die frühen Survey-Studien von Lazarsfeld betrachten Zusammenhänge zwischen Sozialbeziehungen und individuellen Kategorien und Einstellungen mit statistischen Analysen ➔ego-zentrierter Netzwerke (Kapitel 8).
(4)Morenos Soziometrie und die Gruppenstudien um Lewin und Mayo führen zur ➔formalen Netzwerkanalyse, also zur graphentheoretischen und formal-mathematischen Analyse von Netzwerkstrukturen innerhalb[38] abgeschlossener und einigermaßen überschaubarer sozialer Kontexte (Kapitel 3–7).

      Zugleich zeigt der Überblick, wie unübersichtlich die Wurzeln der Netzwerkforschung sind. Zum einen bauen die verschiedenen Stränge der Netzwerkforschung nur wenig aufeinander auf. Simmel, Radcliffe-Brown, die Gestaltpsychologen und mit Abstrichen Moreno scheinen praktisch unabhängig voneinander das Denken in sozialen Konstellationen zu entwickeln. Auch bei Elias und Homans fehlen Hinweise auf Vorgänger für ihre Ansätze. Zumindest die formale Soziologie war aber im deutschen Sprachraum zwischen den Weltkriegen so bekannt, dass sicher Elias (indirekt über Mannheim), Moreno und die Gestaltpsychologen damit in Berührung kamen.

      Wir können die Einflussbeziehungen zwischen den frühen Ansätzen der Netzwerkforschung selbst als Netzwerk darstellen (Abbildung 3). Dabei fungieren einzelne Autoren oder Gruppen von Autoren als Akteure. Die Beeinflussung läuft immer nur von frühen zu späteren Ansätzen und ist deswegen mit gerichteten Pfeilen markiert.

      Zum anderen finden wir viele Quereinsteiger in die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung (Moreno, Homans, später z. B. Harrison White). Auch dies belegt die Anziehungskraft des strukturellen Denkens über die Disziplinen hinweg (Ethnologie, Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, etc.).

      Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen und Perspektiven das, was Linton Freeman die »strukturelle Intuition« nennt (2004: 3): Akteure werden nicht isoliert gedacht, sondern in Austauschbeziehungen mit anderen [39] Akteuren. Und diese Einbettung von Akteuren bzw. die Struktur zwischen ihnen entscheidet über viele soziale Prozesse. Diese strukturelle Intuition führt aber nicht nur zur formalen Netzwerkanalyse, sondern auch zu vielen anderen Herangehensweisen.

      Quelle: Eigene Darstellung

      Leseempfehlungen:

      Barnes, J. A.: »Class and Committees in a Norwegian Island Parish« Human Relations 7, 39–58.

      Elias, Norbert 1970: Was ist Soziologie?, Weinheim: Juventa.

      Fine, Gary Alan/Sherryl Kleinman 1983: »Network and Meaning: An Interactionist Approach to Structure« Symbolic Interaction

Скачать книгу