Soziale Netzwerke. Jan Arendt Fuhse
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Das genuin Soziale fängt eigentlich erst ab einer Konstellation mit drei Personen – einer ➔Triade – an (Simmel [1908] 1992: 114ff). Ab der Triade gewinnen soziale Konstellationen ein Eigenleben, die die Wechselwirkungen bestimmen.
Individuen stehen nach Simmel am Schnittpunkt zwischen sozialen Kreisen ([1908] 1992: 456ff). Diese strukturelle Position prägt und definiert sie. Umgekehrt beeinflussen sie auch die Gruppen, in denen sie Mitglied sind (Breiger 1974).
Simmels Gesetz der großen Zahl zufolge werden Gruppen umso unpersönlicher, je größer sie sind ([1908] 1992: 89f). Je größer die Gruppe, desto weniger wird sie durch die einzelnen Individuen, deren Eigenschaften und deren Ziele bestimmt.
Der Konflikt oder »Streit« zwischen zwei Gruppen wirkt bei beiden hochgradig integrativ ([1908] 1992: 284ff). In der Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind schließen sich die Reihen.
Ein Beispiel für eine triadische Konstellation ist die Figur des »lachenden Dritten« ([1908] 1992: 134ff). Zwei Parteien konkurrieren miteinander. Eine dritte Partei kann dann als neutraler Vermittler (etwa als Richter) auftreten. Oder sie kann die Situation als mögliches Zünglein an der Waage ausnutzen, indem sie ihre Unterstützung den beiden Konfliktparteien für entsprechende Gegenleistung anbietet. Allein die strukturelle Position sorgt hier für Vorteile.
[25]Mit seinem Fokus auf soziale Konstellationen (»Formen«) liefert Simmel einen wichtigen Grundbaustein für die Netzwerkforschung. Ihm fehlt aber ein Netzwerkbegriff für soziale Konstellationen als Muster von Sozialbeziehungen. Simmel benutzt hier noch das Gruppenkonzept. Dieses suggeriert aber eine Abgeschlossenheit und Homogenität sozialer Kontexte, die wir empirisch selten finden (Fuhse 2006: 252ff).
2.2 Symbolischer Interaktionismus
Glücklicherweise gingen die Anregungen der formalen Soziologie mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht vollkommen verloren. Ein wichtiger Strang führt über den symbolischen Interaktionismus in die amerikanische Soziologie. Der Chicagoer Professor Albion Small publizierte eine Reihe von frühen Arbeiten seines Bekannten Simmel in englischer Übersetzung in den ersten Ausgaben des American Journal of Sociology (Abbott 1999: 88).
Smalls Nachfolger William Thomas, George Herbert Mead und Herbert Blumer verbanden die formale Soziologie mit dem amerikanischen Pragmatismus von Dewey, James und Peirce zum symbolischen Interaktionismus. Von Simmel kam der starke Fokus auf Wechselwirkungen und soziale Konstellationen; aus dem Pragmatismus stammen eher philosophische und psychologische Einsichten in die subjektive Verarbeitung und Konstruktion von Sinn. Die Verbindung beider Theorien führte zu der Idee, dass Menschen Symbole austauschen und verarbeiten (Blumer [1969] 1986: 2ff). Wie Simmel sahen Blumer und Mead diese symbolvermittelte Interaktion vor allem innerhalb von Gruppen.
2.3 Die Figurationssoziologie von Norbert Elias
Ein zweiter Wirkungsstrang der formalen Soziologie läuft über Norbert Elias. Im Mittelpunkt seiner Soziologie steht der Begriff der Figuration. Diese steht für ein Geflecht von Interdependenzen zwischen Menschen (oder anderen Einheiten, etwa auch Staaten; Elias 1970: 11f, 140ff). Viele soziale Phänomene wie die Ausscheidungskämpfe zwischen Staaten, der Kalte Krieg, die Königsherrschaft oder Konflikte zwischen ethnischen Gruppen lassen sich Elias zufolge aus diesen Interdependenzen erklären.
Elias wendet sich einerseits gegen Erklärungsmodelle, die von autonom handelnden Individuen ausgehen, und andererseits gegen holistische Modelle von Gesellschaft als integrierter Einheit (wie in der Systemtheorie). Hier finden sich wichtige Grundgedanken von Georg Simmel, ohne dass Elias dies explizit macht.
[26]Norbert Elias (1897–1990) ging wie viele deutsche Sozialwissenschaftler während der NS-Herrschaft ins Exil (nach Großbritannien). Erst Ende der 1970er-Jahre wurde Elias durch die Neuauflage seines zweibändigen Werks Über den Zivilisationsprozess bekannt. Andere wichtige Werke behandeln die absolutistische Herrschaft Ludwigs XIV., die deutsche Gesellschaft und Kultur vor dem Nationalsozialismus und die Frage: Was ist Soziologie?
Elias entwickelt den Begriff der Figuration bereits in den 1930er-Jahren – lange vor dem Netzwerkbegriff. Er geht über den Gruppenbegriff hinaus, weil er die Beziehungskonstellation zwischen mehreren Akteuren betrachtet und zum Beispiel auch Interaktionsstrukturen innerhalb und zwischen Gruppen in den Blick nimmt (etwa in Elias/Scotson [1990] 1965). Später spricht Elias von »Netzwerk« und »Figuration« gleichermaßen (1970: 12 et passim).
Allerdings ist der Figurationsbegriff bei Elias nicht rein formal angelegt: Als Schüler des Wissenssoziologen Karl Mannheim untersucht Elias soziale Konstellationen verknüpft mit Sinnformen wie Ideologien, Feindbildern und Stereotypisierungen.
In seinen historischen Studien greift Elias vor allem auf Dokumente und auf Romane als Quellen zurück. Die für die Migrations- und die Stadtsoziologie wichtige Untersuchung Etablierte und Außenseiter (Elias/Scotson; [1965] 1990) benutzt qualitative Verfahren wie Interviews und ethnographische Beobachtungen. Viele der Überlegungen von Elias lassen sich aber auch mit quantitativen Verfahren überprüfen.
2.4 Soziometrie
Früher als Elias wurde eine andere Gruppe von Emigranten wichtig für die Entwicklung der Netzwerkforschung. Ganz wesentliche Anstöße erhielt die Netzwerkforschung durch die frühen soziometrischen Arbeiten von Jacob Moreno.
Jacob Levy Moreno (1889–1974) studierte in Wien Medizin und Psychotherapie, ging aber schon 1925 in die USA (nach New York). Dort entwickelte er in Studien mit Kindern und mit Strafgefangenen eine eigene Methode zur Messung von Gruppenkonstellationen – die Soziometrie.
Dieses quantitativ angelegte Instrumentarium kommt der ➔formalen Netzwerkanalyse sehr nahe, war aber prinzipiell auf die Therapie von [27]Gruppenprozessen ausgerichtet. Unter anderem entwarf Moreno eine Behandlung mittels Stegreiftheater (Psycho- oder Soziodrama).
In seinem Hauptwerk Who Shall Survive? von 1936 (deutsch: Die Grundlagen der Soziometrie) umreißt Moreno die Soziometrie als »die allen Sozialwissenschaften zugrunde liegende mikroskopische und mikrodynamische Wissenschaft« ([1936] 1996: 19). Es geht um die Untersuchung von mikrosozialen Konstellationen (und Prozessen), die in einer ganzen Reihe von Wissenschaften (Soziologie, Pädagogik, Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft) wichtig werden.
Die theoretische Fundierung von Morenos Überlegungen bleibt dürftig. Dagegen finden sich bei ihm bereits viele ➔Netzwerkgraphen als Kern seiner Analyse ([1936] 1996: 67ff). Mit diesen »Soziogrammen« bildet er die Struktur von Beziehungen in einem Kindergarten, in Schulklassen und in einem Mädchenwohnheim ab. Dabei bietet er schon einige Grundformen von Netzwerkgraphen wie »isolierte Individuen« (A), »Paar« (B), »Dreiergruppe« (C), die »Kette« (D) und den »Stern« (E) an (siehe Abbildung 2). Zum Teil untersucht Moreno diese Beziehungsstrukturen auch schon statistisch, etwa mit Blick auf die Beziehungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Ethnien.
Abb. 2: Grundformen von Netzwerkgraphen (Soziogrammen)
Quelle: Eigene Darstellung nach Moreno ([1936] 1996: 69)
[28]Zurecht gelten die Arbeiten von Moreno heute als Geburtsstunde der formalen Netzwerkanalyse. Auch die von ihm gegründete Zeitschrift Sociometry wurde in der Folge sehr wichtig.3
2.5 Von der