Politische Ideengeschichte. Ralph Weber

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Politische Ideengeschichte - Ralph Weber

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oder gar ganze Ideengeschichten zu schreiben gäbe.6 Beide Termini verhalten sich zur Disziplin in einem zirkulären Verhältnis, insofern neue Verständnisse von „Geschichte“ neue Wege, politische Ideengeschichte zu schreiben, ermöglichen und neue Verständnisse von „Politik“ (oder auch „des Politischen“7) den Gegenstandsbereich möglicher Objekte der Reflexion erweitern oder auch einengen. Wenn beispielsweise Karl Löwith seine Ausführungen in Weltgeschichte und Heilsgeschehen mit der Gegenwart beginnen lässt und sich sukzessive in die Vergangenheit vorarbeitet, dann begründet er dies zum einen didaktisch; zum andern ist das Vorgehen aber auch Ausdruck einer grundsätzlichen Neubestimmung des Historischen selbst.8 Oder wenn ein feministisches Politikverständnis, welches die Privatsphäre für politisch erklärt, neu artikuliert wird und Verbreitung findet, dann lassen sich neue politische Ideengeschichten schreiben. Sie fordern uns dann beispielsweise zur Berücksichtigung von Forschungen auf, die zuvor eher in der Sozialgeschichte (also außerhalb der politischen Ideengeschichte) verortet waren.

      Um theoretische Werkzeuge zu bergen und in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns selbst besser zu verstehen, untersucht man in der politischen Ideengeschichte in der Regel Texte. Texte können aber recht unterschiedlicher Art sein. Welche Textarten zählen also zu den relevanten medialen Ressourcen des ideengeschichtlichen Studiums? Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist man immer mehr von einer restriktiven Antwort auf diese Frage abgekommen. Heute gilt es, Texte unterschiedlicher Formate und soziokultureller Herkunft zu berücksichtigen.

      Vom engen zum weiten Textbegriff

      Texte sind der Gegenstand der ideengeschichtlichen Reflexion, und zunächst finden wir diese in der Form von Büchern. Wir gehen in die Bibliothek, steuern das entsprechende Regal an und nehmen Aristoteles’ Politik oder Das kommunistische Manifest zur Hand. Texte der politischen Ideengeschichte finden sich in Monografien; dazu kommen Sammelbände, Zeitschriften und Zeitungen, in denen politische Denkerinnen und Denker ihre Artikel und Interviews veröffentlichen und viele weitere Textformate, die wir beim Gang in die Bibliothek leicht vergessen: Hannah Arendt hat ihr politisches Denken zu Teilen über Radiovorträge vermittelt, Michel Foucault und Noam Chomsky ihre philosophischen Differenzen in Fernsehsendungen verhandelt. Wichtige Einblicke in das politische Denken der Renaissance sind uns mit Gemälden gegeben. Claude Lefort sieht die aussagekräftigsten Texte für den ideengeschichtlichen Übergang vom Absolutismus zur modernen Demokratie gar in monarchischen Begräbniszeremonien.9 Auch die neuen Medien stellen Foren etwa in Form von Blogs bereit, in denen politiktheoretische Reflexion einen zunehmend bedeutsamen Platz findet. Und wenngleich es nahe liegt, sich die unterschiedlichen Textformate entlang einer Achse vorzustellen, dessen einer Pol einen (alten) engen und dessen anderer Pol einen (neuen) weiten Textbegriff kennzeichnet, so ist zu bedenken, dass selbst die Klassiker des politischen Denkens weit über diese Achse verstreut sind. Aristoteles’ Politik basiert auf Vorlesungen und hat in der Form eines Buchs erst im Mittelalter, vermittelt über arabische Kommentatoren, Eingang in unsere Regale gefunden. Das kommunistische Manifest war ursprünglich eine Flugschrift.

      Von der Hoch- zur Populärkultur

      Während in der Disziplin schon immer auf ideengeschichtliche Texte unterschiedlichsten Formats als Reflexionsgegenstand zurückgegriffen wurde, so besteht eine genuine Neuerung hinsichtlich der Einbeziehung von Texten unterschiedlicher soziokultureller Herkunft. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde der Blick von Texten der sogenannten ‚Hochkultur‘ systematisch auf die ‚Populärkultur‘ ausgedehnt. Texte der politischen Ideengeschichte werden seither nicht mehr nur bei akademischen und politischen Eliten vermutet, sondern auch im Alltagsleben gesucht. Die Gründe hierfür sind dreierlei: Erstens sind bedeutende politische Ideen nicht selten aus den Niederungen des politischen Tagesgeschäfts hervorgegangen, ehe sie philosophisch geschärft und modifiziert in Texten der Hochkultur artikuliert werden konnten.10 Zweitens kann nie mit Sicherheit vorausgesagt werden, aus welchem gesellschaftlichen Kreisen ein Text von herausragender ideengeschichtlicher Bedeutung und Qualität hervorgeht. Die Autorschaft des anonymen Online-Pamphlets Der kommende Aufstand, das für große Aufregung sorgte, wurde zunächst bei einer Gruppe Nonkonformisten aus dem Dorf Tarnac vermutet, woraufhin die französische Polizei im Jahr 2008 einen Klarinettisten, eine Krankenschwester und einen Gemüsehändler festnahm, auch wenn sie deren Urheberschaft schließlich nicht nachweisen konnte.

      Schließlich ist ein dritter Grund, dass ideengeschichtliche Texte nicht auf einen Ort auf einer Achse soziokultureller Textwertigkeit festgeschrieben sein müssen, weil Hochkultur und Populärkultur in einem dynamischen Verhältnis stehen. Kulturelle Wertigkeit impliziert Bewertung, und diese kann sich gerade mit historischem Abstand deutlich verändern. Hochkultur kann Populärkultur werden, und umgekehrt, wie Machiavellis Der Fürst für beiderlei Dynamiken belegen mag. Ist die Schrift doch sicherlich keine repräsentative Quelle des frühneuzeitlichen Gelehrtentums, wird sie seit Langem zum Grundkanon politischer Ideengeschichte gezählt; im 20. Jahrhundert hat sie den Status von Ratgeberliteratur wiedergewonnen (unter Titeln wie Machiavelli für Frauen, Machiavelli für Manager, oder Machiavelli für Streithammel), wenngleich in etwas vulgärer Form.

      Politische Ideengeschichte ist also vornehmlich eine Textwissenschaft, wobei je nach engem oder weitem Textbegriff und soziokultureller Herkunft verschiedene Objekte Gegenstand der Untersuchung und Reflexion sein können. Ausgangspunkt ist die Identifizierung eines als interpretationsbedürftig wahrgenommenen Textmaterials. Die Herausforderung für die Ausdifferenzierung von Interpretationsansätzen besteht darin, die Analyseschritte aufzuzeigen, mithilfe derer ein als interpretationsbedürftig wahrgenommenes Textmaterial ausgelegt wird. Welche Analyseschritte für die Interpretation zielführend sind, hängt natürlich von dem genauen Leitinteresse ab, ob also wie zuvor erwähnt das Denken des Autors oder die Aussage seiner Texte erschlossen werden soll, oder die in den Texten angelegte Mitteilung an eine Leserschaft, oder aber die Bedeutung, die die Texte ihrer Leserschaft vermittelt haben. Die unterschiedlichen Leitinteressen suggerieren ihrerseits aber wiederum spezifische Verständnisse dessen, als was ein Text im Allgemeinen überhaupt zu verstehen ist. Die nachfolgende Typologie versucht daher Klarheit in das Dickicht der vielfältigen Interpretationsansätze zu bringen, indem die Interpretationsansätze anhand des angesetzten Textverständnisses geordnet werden.

      Textzentrierte Ansätze: „ein Text ist der Gehalt seiner Aussagen“

      Ein Text kann einfach als Text verstanden werden, als ein Argument, das jenseits der Prosa des Texts im Gehalt seiner Aussagen besteht. Der analytische Ansatz abstrahiert dementsprechend von der sprachlichen Präsentation, um den Gedanken selbst zu erfassen. Für den analytischen Interpreten macht es keinen Unterschied, ob ein Satz auf Englisch, Deutsch oder Sanskrit geschrieben ist, wie auch grammatikalische Konstruktionsarten, Akzentuierungen oder schlicht Rhetorik nicht ins Gewicht fallen. Ein einziger Aussagegehalt kann daher auf vielfache Weise ausgedrückt werden. Erasmus von Rotterdam zählte beispielsweise 195 lateinische Varianten des Satzes „Ihr Brief hat mir sehr gefallen“ auf; die Aussage des Satzes war ihrem Gehalt nach stets dieselbe.11 Bei einer analytischen Textinterpretation steht also der Aussagegehalt im Vordergrund. Im Idealfall lässt sich dieser in Form von Prämissen und Schlussfolgerungen darstellen, so dass im Anschluss an die Interpretation, der argumentative Inhalt des Texts auf Validität und Konsistenz geprüft werden kann.

      Interessante Ansätze, die ebenfalls als textzentriert gelten können, sich bisher jedoch noch nicht innerhalb des Mainstreams etablieren konnten, sind in der Semiotik (Umberto Eco) und im (Post)-Strukturalismus zu verorten. Im Gefolge von Roland Barthes’ und Michel Foucaults Erklärungen zum Tod des Autors und Jacques Derridas Dekonstruktivismus haben sich neue Möglichkeiten ergeben, auch Texte aus der politischen Ideengeschichte neu zu interpretieren. Bei der ausführlichen Darstellung und Illustration

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