Emmanuel Lévinas. Barbara Staudigl

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Emmanuel Lévinas - Barbara Staudigl utb Profile

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für alle Holocaust-Opfer des nationalsozialistischen Regimes und eine zweite hebräische Widmung für seine Eltern, die Brüder und Schwiegereltern, die in ihrem Heimatort Kaunas in Litauen der »Endlösung« zum Opfer gefallen waren.

      »Dem Andenken des Lebenshauches meines Vaters, meines Lehrers Rav Jechi’el, Sohnes des Rav Avraham, des Leviten;

      meiner Mutter, meiner Lehrerin, Devora, Tochter des Rav Mosche;

      meines Brudes Dav, Sohnes des Rav Jechi’el, des Leviten, und Aminadav, Sohnes des Rav Jechi’el, des Leviten;

      meines Schwiegervaters Schmu’el, Sohnes des Rav Gerschon, des Leviten;

      und meiner Schwiegermutter Milka, Tochter das Rav Chajím.

      Möge ihre Seele eingebunden sein im Beutel des Lebens!«*

      Das Werk Lévinas’ ist das Werk eines Juden, der Antisemitismus und Holocaust am eigenen Leib und in der eigenen Familie erlebt hat. Lévinas’ Philosophie ereignete sich vor diesem Hintergrund. Seine Biographie wurde, wie er selbst sagt, beherrscht von der Vorahnung des Nazigrauens und der Erinnerung daran (vgl. EN, 108).

      Dass die Nachwelt sich ein plastisches Bild vom Leben des französischen Philosophen machen kann, verdankt sie der detailreichen Biografie Salomon Malkas, der Schüler von Lévinas war und den ehemaligen Lehrer und Schulleiter nicht als Philosophen, sondern als Mensch porträtiert (vgl. Malka 2003). Diese persönliche Biografie erlaubt einen anderen Blick auf ein Werk, das nicht leicht zu lesen ist, dessen Ethik im wahrsten Sinne des Wortes »an-stößig« sein kann. Lévinas ist nicht nur einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, er war auch gläubiger Jude – und zutiefst Mensch.

      »Den Menschen kannte ich schon seit meinem siebzehnten Lebensjahr, als ich Schüler der ENIO war. Das kleine Energiebündel, das durch die Gänge fegte, machte damals Eindruck auf uns. Ich erinnere mich an seine Art zu gehen, seine kleinen, abgehackten Schritte. Ich höre noch sein ›Nicht wahr?‹ am Ende jedes noch so kleinen Satzes und sehe ihn mit seinem Exemplar von Le Monde, das er täglich nach dem Mittagessen unter dem Arm trug. […] Wir lebten in seiner Philosophie, ohne uns darüber im Klaren zu sein. Ich denke an die Aufmerksamkeit, die er, ohne es sich anmerken zu lassen, den ungeduldigen Fragen der jungen Leute, ihrem Bedürfnis, bemerkt zu werden, widmete. […]

      Sein Ringen nach Luft, wenn er das richtige Wort suchte, das angestrengte Nachdenken, bei dem man ihn buchstäblich zusehen konnte, tastende Formulierungen und Gedankenblitze, befreiende plötzliche Erkenntnisse sowie aufscheinende Emotionen, und dann wieder ein instinktives, brüskes Zurückschrecken vor jedem Anflug von Eitelkeit: All das war bei ihm gleichzeitig zu erleben.« (Malka, 12; 106)

      Emmanuel Lévinas wurde 1906 in Kaunas in Litauen geboren, das damals zum zaristischen Russland gehörte. Sein Vater Jehiel betrieb eine Buchhandlung in der Hauptstraße, heute Allee der Freiheit, in der sich auch das Café Conrad befand, ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Die Familie Lévinas selbst wohnte mit den drei Söhnen Emmanuel, Boris und Aminadab ein paar Straßen weiter in der Nähe des Flusses Nemunas. Im Nebenhaus lebte die Familie Lévy mit der Tochter Raissa, Lévinas’ späterer Frau.

      Der junge Emmanuel wuchs in einem traditionellen jüdischen Milieu auf, religiöse Bräuche und Riten waren eingebettet in den Alltag der Familie. Lévinas lernte die hebräische Bibel und die talmudische Gelehrsamkeit kennen, die drei Brüder hatten einen eigenen hebräischen Hauslehrer.

      Exkurs

       Jüdisches Leben in Litauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

      Salomon Malka beschreibt das jüdische Leben in Litauen zu dieser Zeit: » war die Zeit der Jahrhundertwende, als Sprache, Religion und nationale Frage im Zentrum aller Debatten standen, als Emanzipationsgelüste aufkamen, das kulturelle Leben einen Höhepunkt erlebte. In Kaunas wie im übrigen Litauen waren all diese Strömungen lebendig. Ihren deutlichsten Niederschlag fanden sie in einem Netz unterschiedlichst orientierter Schulen, deren Lehrer, seien sie religiös oder laizistisch ausgerichtet, Zionisten oder Jiddischisten, all diese Strömungen widerspiegelten. Diese ganze Skala der Nuancen machte die Besonderheiten der Stadt, machte die Besonderheit Litauens aus. (Malka, 29)

      Verfechter der Orthodoxie gab es in Kaunas ebenso wie Anhänger der Haskala, der aus Deutschland stammenden Aufklärung, die mit einem Aufblühen der Wissenschaften und der Künste einherging. Es gab Zionisten, die für die Schaffung einer jüdischen Gesellschaft in Palästina eintraten; und es gab Bundisten, die das jüdische Proletariat mit Hilfe sozialistischer Ideen einigen wollten. Prägend für die Zeit waren die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Chassidismus, einer pietistischen, auf religiöse und mystische Erneuerung abzielenden Strömung und den Anhängern der sog. Litwak-Kultur.

      Insgesamt gab es in Litauen vor dem Ersten Weltkrieg rund 40.000 Juden. Auch in Lévinas’ Heimatstadt Kaunas prägten sie das kulturelle Leben stark mit durch jüdische Theatergruppen, Zeitungen sowie jüdische Schulen (vgl. Malka, 28ff.).

      Die Familie Lévinas lebte in einem gemäßigten jüdischen Milieu, in dem die Begegnung mit dem Talmud als wichtig erachtet wurde. Ebenso wichtig aber war im Hause Lévinas Literatur. Dies versteht sich nahezu von selbst, bedenkt man, dass der Vater Jehiel eine Buchhandlung betrieb, seine Schwester die russische Stadtbibliothek von Kaunas leitete. Emmanuels Mutter Dwora vermittelte Emmanuel die Liebe zur Literatur, las den Söhnen vor, ermöglichte die Begegnung mit den russischen Dichtern, die den Sohn faszinierten und, wie er selbst sagte, zusammen mit der Bibel zur Philosophie brachten.

      »Die Bibel sehr früh, die ersten philosophischen Texte an der Universität […] Aber zwischen der Bibel und den Philosophen: die russischen Klassiker Puschkin, Lermontow, Gogol, Turgenjew, Dostojewsky und Tolstoi, und auch die großen Schriftsteller des westlichen Europa, vor allem Shakespeare, den ich in Hamlet, Macbeth und König Lear sehr bewundert habe. Ist dies eine gute Vorbereitung auf Platon und Kant, die auf dem Programm für das Diplom für Philosophie stehen, wenn man die Kernfrage der Philosophie als die nach dem Sinn des Menschlichen, wie sie Suche nach dem berühmtem ›Sinn des Lebens‹ – nach dem sich die Romanfiguren der russischen Schriftsteller ununterbrochen fragen – versteht?« (EU, 14)

      In seiner Jugend erlebte Emmanuel die Unruhen des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution. Die Familie Lévinas war betroffen von den politischen Turbulenzen. Sie emigrierte nach der deutschen Invasion in die Ukraine, Emmanuel besuchte in Charkow das russische Gymnasium, wurde dort als einer von nur fünf jüdischen Schülern aufgenommen.

      Exkurs

       Litauen im frühen 20. Jahrhundert

      Litauen gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zum zaristischen Russland, die Stadt Kaunas war zur Zeit, als Lévinas geboren wurde, Hauptstadt einer sog. Gubernja, eines Gouvernements. Litauen war nach der dritten Teilung Polens (1795) zu einer Provinz des Russischen Reiches geworden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verfolgte das zaristische Russland eine völlige Russifizierung: Der Druck litauischer Texte in litauischer Sprache wurde verboten, litauische Schulen wurden geschlossen. Gleichzeitig engagierten sich jedoch Intellektuelle für eine eigene politische und nationale Identität Litauens. Im Jahr 1905 erklärte der Große Wilnaer Landtag die Autonomie des litauischen Staates innerhalb des Russischen Reiches. Litauisch wurde wieder zur offiziellen Sprache.

      Während des Ersten Weltkrieges besetzte Deutschland 1915 litauische Gebiete und fasste sie unter der Führung von General Erich Ludendorff zur Verwaltungseinheit Ober-Ost zusammen. Am Ende des Ersten Weltkrieges erklärte der litauische Landesrat (Lietuvos Taryba), die Unabhängigkeit Litauens mit der Hauptstadt Vilnius. Doch Polen meldete territoriale Ansprüche auf die Gebiete rund um Vilnius an und annektierte

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