Emmanuel Lévinas. Barbara Staudigl

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Aktivität blieb an ihm haften.

      Es ist nicht belegt, ob sich zwischen dem Studierenden Lévinas und dem Professor Heidegger ein engerer Kontakt entwickelte, obwohl beide Teilnehmende am philosophischen Treffen in Davos waren. Lévinas schätzte Zeit seines Lebens die denkerische Schärfe Heideggers, wandte sich jedoch vom Denken eines Seins ab, in dem das Zwischenmenschliche, die Ethik, die Begegnung von Mensch zu Mensch keine Rolle spielen.

      »Heidegger ist für mich der größte Philosoph des Jahrhunderts, vielleicht einer der ganz großen des Jahrtausends; doch das macht mir zu schaffen, denn ich kann niemals vergessen, was er 1933 darstellte, selbst wenn er es nur für eine sehr kurze Zeit war.« (ZU, 147)

      1930 promovierte Lévinas und ging an die Sorbonne in Paris. Geprägt durch positive Erfahrungen in Straßburg und begeistert vom französischen Humanismus, wurde er 1930 französischer Staatsbürger. Im Jahr 1932 heiratete er Raissa Lévy, die er bereits von Kindesbeinen an kannte. Raissa war zum Musikstudium nach Wien und Paris gegangen und hatte dort Emmanuel wieder getroffen. Im Jahr 1935 wurde die Tochter Simone geboren, 1949 folgte Sohn Michael, Komponist, Pianist und Professor am Konservatorium in Paris.

      In den 30er Jahren arbeitete Emmanuel Lévinas im Lehrkörper der »Alliance Israélite Universelle«, einer internationalen jüdischen Organisation, die im Jahr 1860 in Frankreich als Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen gegründet wurde und die bis heute eine zentrale Institution für jüdische Bildung und Kultur darstellt (vgl. http://www.aiu.org).

      Als Franzose wurde Lévinas 1939 eingezogen, geriet 1940 in deutsche Gefangenschaft und wurde in Deutschland in das Lager Fallingbostel Stalag XI B, ein Lager für Kriegsgefangene, gebracht. Die Behandlung in diesen Lagern war abhängig von der Nationalität der Inhaftierten. Osteuropäische Insassen sowie Juden wurden im Hinblick auf Nahrung und Medizin unzureichend versorgt (vgl. http://www.relikte.com/fallingbostel/index.htm). Allerdings waren die jüdischen französischen Soldaten durch die Genfer Konvention besser geschützt als jüdische Zivilisten. Lévinas wurde einer Gruppe von siebzig jüdischen Häftlingen zugeteilt, die im Wald als Holzfäller arbeiten mussten.

      Er überstand die Zeit bis zur Befreiung 1945 – in Unwissenheit darüber, was mit seiner Familie während des nationalsozialistischen Terrors geschah. Seine Frau und seine Tochter überlebten in einem Frauenkloster versteckt, seine gesamte Familie in Litauen fiel der sog. Endlösung der Judenfrage zum Opfer.

      Lévinas äußerte sich selten über diese Zeit. Ein kleiner Aufsatz »Nom d’un chien« oder das Naturrecht berichtet vom Elend und den Erniedrigungen dieser Zeit und weckt Verständnis für die Entscheidung des Philosophen, nie wieder deutschen Boden zu betreten.

      »Wir waren siebzig in einem Waldarbeiterkommando israelitischer Kriegsgefangener in Nazideutschland […]. Die französische Uniform beschützte uns damals noch vor der Hitlerschen Vernichtungswut. Die anderen Menschen jedoch, die uns trafen oder uns Arbeit oder Befehle gaben oder uns sogar zulächelten – und die Kinder und Frauen, die vorübergingen und manchmal einen Blick auf uns warfen –, beraubten uns unserer Menschenhaut. Wir waren nur noch quasi-menschlich, eine Affenbande. Wie es die Kraft und das Elend der Verfolgten ist: Ein dünnes inneres Gemurmel erinnerte uns an unser Dasein als Vernunftwesen. Doch wir waren nicht mehr auf der Welt. Unser Kommen und Gehen, unsere Pein und unser Gelächter, unserer Krankheiten und Zerstreuungen, die Arbeit unserer Hände und die Angst in unseren Augen, die wenigen Briefe aus Frankreich, die man uns aushändigte und diejenigen an unsere Familien, die man akzeptierte – all das geschah zwischen Klammern. Wesen, die ihrer Art nicht entkommen konnten; sprachlose Wesen, trotz ihres reichen Wortschatzes.« (NdCh, 57ff.)

      Selbst als ihm im Jahr 1983 der Karl-Jaspers-Preis der Universität Heidelberg verliehen wurde, kam Lévinas nicht nach Deutschland. Sein Sohn Michael nahm an seiner Stelle den Preis entgegen, verlas die vom Vater vorbereitete Rede (vgl. Malka, 247).

      Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Lévinas nach Frankreich zurück. Im Jahr 1946 übernahm er die Leitung der »Ecole Normale Israélite Orientale« (ENIO) in Paris, einer Schule für Jüdinnen und Juden vor allem marokkanischen Ursprungs, die Lehrer für die Schulen der »Alliance Israélite Universelle« ausbildet. Die Konstellation war durchaus ungewöhnlich, bedenkt man, dass Emmanuel Lévinas ein Aschkenas war, ein Jude aus Osteuropa, während die ihm anvertrauten Schülerinnen und Schüler Sephardim, Juden und Jüdinnen aus Nordafrika waren. Lévinas behielt die Leitung der Schule nominell bis 1973, lehrte dort Philosophie und Hebräisch. Die Zeit bis zu seiner Emeritierung an der Universität in Paris im Jahr 1976 beschreibt Lévinas selbst so:

      »Seit 1947 regelmäßige Vorlesungen im philosophischen Colloquium, das von Wahl gegründet und mit Leben erfüllt wurde. Leitung der hundert Jahre alten Ecole Normale Israélite Orientale, Ausbildung von Französischlehrern für die Alliance Israélite Universelle des Mittelmeerraumes. […] Seit 1957 jährliche Vorlesungen über talmudische Texte bei den Colloquien der Französischen Jüdischen Intellektuellen. 1961 Doktordissertation der Geisteswissenschaften. Seit 1967 Professur an der Universität Paris-Nanterre und seit 1973 an der Sorbonne.

      Dieses Sammelsurium ist eine Biographie.« (EN, 108)

      Im September 1994 starb Lévinas’ Frau Raissa, die er zärtlich »Rainka« nannte. Raissa Lévinas hatte ihren Mann immer zu Vorträgen und Vorlesungen begleitet, war in seiner Nähe, aber stets im Hintergrund. Nach dem Tod von Emmanuel Lévinas schreibt Wilhelm Schmid: »Die Inkarnation des Anderen, das war für Lévinas sein Frau. Als er sie letztes Jahr zu Grabe tragen musste, mochte er selbst nicht mehr leben. Lévinas starb am 25. Dezember, fast 90 Jahre alt.« (Schmid, 27.12.1995).

      Emmanuel und Raissa Lévinas (Malka, 224).

      Emmanuel Lévinas hat den Holocaust erlebt und überlebt. Und wenngleich er ihn in seiner Philosophie nicht explizit thematisiert, sind die Erfahrungen dieser Zeit wesentlicher Motor für die Entwicklung seiner Ethik. Lévinas’ Biographie war, wie er selbst sagte, geprägt von der Vorahnung des Nazigrauens und der Erinnerung daran (vgl. EN, 108). Der Holocaust ist für ihn aufs Engste verquickt mit der Frage, wie die abendländische humanistische Tradition solche Anti-Blüten treiben konnte. »Ich suchte keine Antwort für Auschwitz, sondern für die, die überlebt haben«, sagte er bei einem Kolloquium in Leuven (zitiert nach Meyer-Drawe, 157).

      Was den Juden während des Nazi-Terrors widerfahren ist, ist singulär. Doch die Erfahrungen, die aus dieser Unmenschlichkeit gewonnen wurden, können Gültigkeit für die ganze Menschheit besitzen. Die Unmenschlichkeit des 20. Jahrhunderts muss auch von der Philosophie verarbeitet werden, denn der Holocaust ereignete sich nicht fernab der abendländischen Denktradition und des Humanismus, sondern inmitten von beidem.

      »Es geht nicht darum, […] an dieser Herrschaft, die von den Dingen und den Bösen über die Menschen ausgeübt wird, an dieser Tierheit, zu zweifeln. Aber Menschsein heißt zu wissen, dass es so ist. Die Freiheit besteht darin zu wissen, dass die Freiheit in Gefahr ist. Aber Wissen und Bewusstsein bedeuten, Zeit haben, um dem Augenblick der Unmenschlichkeit auszuweichen und zuvorzukommen. « (TU, 38)

      Literatur

      Malka, Salomon: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003

       Lévinas im Profil

       Lévinas’ Ethik und die abendländische Tradition1

      Die Ethik Lévinas’

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