Emmanuel Lévinas. Barbara Staudigl

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Akt: das Andere, das Fremde begreifen, in den Griff bekommen zu wollen. Was dabei jedoch nicht gelingen kann, ist der Ausstieg aus der Immanenz, die Begegnung mit Transzendenz.

      Immanenz und mangelnde Transzendenz führen zu einer Totalität. Wenn Andersheit nicht als Qualität belassen, sondern gleich gemacht wird, wenn es nur noch das Eine gibt, hat die Totalität gesiegt. Für Lévinas ist die abendländische Tradition auch eine Geschichte dieser Totalität.

      »Diese Geschichte kann als Versuch einer universellen Synthese interpretiert werden, als Reduzierung aller Erfahrung, alles Sinnvollen auf eine Totalität, in der das Bewusstsein die Welt umfasst, außerhalb seiner Selbst nichts übrig lässt und auf diese Weise absolutes Denken wird. Das Bewusstsein von sich ist zugleich Bewusstsein vom Ganzen. Gegen diese Totalisierung hat es in der Geschichte der Philosophie wenig Proteste gegeben.« (EU, 57)

      Lévinas protestiert. Er geht den Weg in eine Ethik, die nicht von den allgemeinen Prinzipien ausgeht und sie auf das Einzelne anwendet. Er beginnt gerade dort, wo die Ontologie ankommen will: bei der Andersheit des einzelnen Seienden.

      Auch Heidegger protestierte vor Lévinas gegen die Totalität der menschlichen Erkenntnis.2 Er kritisierte die klassische Ontologie, die die Frage nach dem Sein immer unter dem Blickwinkel der Weltimmanenz betrachtet hat. Durch diese Betrachtungsweise wurde das Sein vergessen, im Zentrum standen nur die Seienden. Heidegger denkt vom konkreten Dasein des Menschen in der Welt aus. Dieses Dasein ist ein Sein zum Tode. Das Individuum muss sich ins Verhältnis dazu setzen. In seinen späteren Schriften verschiebt sich bei Heidegger die Optik weg vom sorgenden Subjekt hin zum Sein. Das Sein wird nicht mehr als Entwurf von Dasein, als zu bewältigende Existenz vor dem Tod verstanden, sondern als unvorwegnehmbares Geschick der Seins- und Wahrheitsgeschichte, die dem Menschen überhaupt erst die Möglichkeit eines Welt- und Selbstverständnisses eröffnet. Diese Seins- und Wahrheitsgeschichte ist jedoch geprägt von Seinsverbergung und Wahrheitsentzug. Weil man sich dieser Geschichte nicht versichern kann, bleibt unser Denken – und Heidegger versteht das seine so – ein vorläufiges (vgl. Halder 2008, 137f.).

      Lévinas kritisiert wohl den totalitären Anspruch einer ontologischen Tradition, die alles identifiziert und ver-ein-nahmt (im wörtlichen Sinne: eins macht). Doch sieht er bei Heidegger eine andere Totalität: die des Seins, die den Menschen zur Exekutive des Seins macht. Das Sein befiehlt dem Menschen die Existenz. Die Beziehung zwischen den Menschen ist für Heidegger nicht interessant, nur die Beziehung zum Sein (vgl. SpA, 194). »Anonym, neutral, befiehlt das ›Sein‹ das Existieren als ethisch indifferentes und als heroische Freiheit, der alle Schuld vor dem Anderen fremd ist.« (SpA, 194)

      Das Zwischenmenschliche, die Ethik, die Begegnung von Mensch zu Mensch spielen bei Heidegger keine Rolle – und sind bei Lévinas der Beginn der Ethik.

      »Die erste Beziehung des Menschen zum Sein verläuft über seine Beziehung zum Menschen.« (SF, 35)

      Abschied vom Monolog des Selben

      Sollte es keine andere Weise geben, im Sein zu sein als eine monologische? Sollte es dem Menschen nicht möglich sein, Anderem zu begegnen, das mehr ist als eine Variation des Selben?

      Die Tradition hat den Zugang zum anderen Menschen über die Erkenntnis gesucht, über das Allgemeine, alle Verbindende. Dabei wurde immer die Bedeutung des eigenen Bewusstseins bedacht, nicht aber die des Menschseins mit anderen. Welchen Stellenwert haben Begegnung und Beziehung in dieser Tradition? »Wird nicht alles, was im menschlichen Seelenleben auftritt, alles, was dort geschieht, am Ende gewusst? Das Geheimnis und das Unbewusste, verdrängt oder verfremdet, werden gemessen am oder geheilt durch das Bewusstsein, das sie verloren haben oder das sie verloren hat.« (ZU, 55)

      Beziehung wird nicht durch Erkenntnis konstituiert, sondern durch Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Damit negiert Lévinas nicht die Bedeutung von Vernunft und Erkenntnis für das menschliche Dasein. Doch er hält sie für ergänzungsbedürftig durch eine Ordnung, die dieser ontologischen sogar vorausgeht: durch die sinnliche.

      »Der Mensch lässt sich wohl als Gegenstand der Erkenntnis behandeln und zeigt sich dem Wissen im Wahren der Wahrnehmung und im Licht der Sozialwissenschaften. Aber ausschließlich als Objekt betrachtet, ist der Mensch missachtet und verkannt. Nicht, dass die Wahrheit verletzend oder seiner unwürdig wäre. […] Doch wir sind Menschen, bevor wir Wissenschaftler sind, und bleiben es, auch nachdem wir eine Menge vergessen haben.« (AS, 9)

      Mit der Abkehr von einem monologischen Denken steht Lévinas nicht allein in der Tradition, sondern stellt sich selbst bewusst in die Nähe der sog. dialogischen Philosophie.

      Exkurs

       Dialogische Philosophie

      Martin Buber, Ferdinand Ebner und Franz Rosenzweig sind die großen Gestalten der dialogischen Philosophie. Allen dreien gemeinsam ist der jüdische Sozialisationshintergund. Ebner entschied sich für die Konversion zum christlichen Glauben, Rosenzweig plante den Übertritt zum Protestantismus, blieb jedoch aufgrund einer prägenden Erkenntnis Jude und gründete in den Jahren vor seinem Tod ein Freies Jüdisches Lehrhaus. Buber schließlich war überzeugter Jude, der sich um die Erneuerung des assimilierten Judentums ebenso bemühte wie um die Verständigung zwischen Juden und Arabern in Palästina (vgl. Coreth / Ehlen / Haeffner / Ricken, 40ff.).

      Die dialogische Philosophie entfaltete sich nicht unabhängig von der klassischen Tradition. Auch die dialogischen Denker waren von der Fragestellung geleitet, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den Idealismus, der das Subjekt als das Absolute postuliert hatte, auftat: der Frage nach dem Sein. Die Antwort, die sie auf diese Frage zu geben versuchten: »Sein wird nicht mehr nur verstanden als der absolute Binnenraum des sich selbst hellen Geistes. Sondern es zeigt sich als das sich je neu im Zwischen Ereignende, das in der je neu sich ereignenden Sprache zwischen Menschen hell wird und zum Ausdruck kommt.« (Casper 1984, 354)

      Lévinas weiß sich beeinflusst vom dialogischen Denken. Er spricht voll Wärme von Franz Rosenzweig, den er − da er bereits 1929 im Alter von 43 Jahren verstarb − persönlich nicht kennenlernte, dessen Lehre er aber sehr verbunden war. »Man erkennt in Rosenzweig trotz den schrecklichen Erfahrungen, die uns von seiner Zeit trennen, trotz den deutschen Landschaften, in denen sich dieses Leben abspielt, einen Zeitgenossen und einen Bruder.« (SF, 132)

      Rosenzweig hat bereits 1919 in seinem Werk Der Stern der Erlösung auf die Grenzen der abendländischen Philosophie hingewiesen. Ein Habilitationsangebot nach einer exzellenten Promotion an der Universität Freiburg lehnte er ab mit der Begründung der mangelnden Freiheit im universitären Denken. Dieses Denken lasse sich zwar nicht die Antworten vorschreiben, wohl aber die Fragen (zitiert nach Casper 2002, VI). Rosenzweig stellte wie nach ihm Heidegger und Lévinas die Voraussetzungen des überlieferten philosophischen Denkens in Frage. Dieses habe wohl den sicheren Besitz des vielen Wissens erreicht. Aber erreicht es auch die ursprüngliche Wirklichkeit und die für den Menschen wesentlichsten Fragen? (ebd., VII)

      »Was Rosenzweig selbst interessiert, ist die Entdeckung des Seins als Leben, des Seins als Leben in Beziehung. Die Entdeckung eines Denkens, das das Lieben dieses Seins selbst ist. Die Person fließt nicht mehr in das System ein, das sie denkt, […], um darin zu erstarren und auf seine Singularität zu verzichten. Die Singularität ist für die Ausübung dieses Denkens und dieses Lebens als unersetzlicher Singularität notwendig, der einzigen, die der Liebe fähig ist, der einzigen, die geliebt werden kann, die zu lieben vermag, die eine religiöse Gemeinschaft bilden kann.« (SF, 143)

      Die Singularität des Individuums, die Bedeutung des Lebens als Beziehung sind Themen, die Lévinas auch bei Martin Buber hoch schätzt, der das von Rosenzweig im Jahr 1920 begründete jüdische Lehrhaus in Frankfurt nach dessen frühem Tod noch bis ins Jahr 1938 geführt hat. Mit seiner These »Am Anfang war Beziehung« (vgl.

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