Emmanuel Lévinas. Barbara Staudigl
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Kritik der Ontologie
Lévinas kritisiert die ontologische Tradition, die das Denken des Abendlandes geprägt und dominiert hat.
Exkurs
Ontologie
Ontologie ist die »›Seinslehre‹, d.h. Lehre vom Seienden, sofern es ist.« (Halder 2008, 233) Damit ist ein Begriff gemeint, der in der philosophischen Tradition erst im 17. Jahrhundert aufkam, vom Prinzip her jedoch bereits auf das aristotelische Denken zurückgeht. In diesem interessiert nicht das einzelne Seiende in seiner Singularität, sondern das in ihm aufleuchtende allgemeine Sein. »Ontologie ist reine, sich selbst genügende theoria, ›Theorie‹ im ausgezeichneten Sinn. Die ontologische Frage ist sowohl die leerste, weil allgemeinste, als auch die umfassendste, weil auf die unbeschränkte Totalität gehend.« (ebd.)
Im ontologischen Denken stehen sich zwei Grundordnungen gegenüber: auf der einen Seite die reale, sinnlich wahrnehmbare, aber vergängliche Welt, die Heimat aller einzelnen Seienden; auf der anderen Seite die geistige Wirklichkeit der Ideen, die alle allgemeinen Prinzipien beheimatet. Sie ist gleichsam die vorgegebene und übergeordnete Ordnung für alles sinnlich Seiende. Der Mensch lebt in beiden Ordnungen: Körperlich ist er in die sinnlich erfahrbare Welt eingebunden, an der geistigen Welt kann er teilhaben, da er mit Geist ausgestattet ist. Weil der Mensch vernunftbegabt ist, kann er die Welt der sinnlichen Einzelwesen transzendieren und an den geistigen Erkenntnissen teilhaben (vgl. Müller / Halder, 219f.).
In diesem ontologischen Denken gilt der Primat des Geistes, der die Grundsätze des allgemeinen Seins erkennen, sich an den allgemeinen Prinzipien orientieren kann. Alle sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene werden den geistigen Prinzipien untergeordnet und auf ihren allgemeinen Seinsgrund zurückgeführt. Auf diese Weise entsteht jedoch nach Lévinas Totalität, da jede Andersheit und sogar ihr Gegenteil letztlich auf das eine Prinzip bezogen werden kann. In unserer intellektuellen Tradition sind Sein und Erkenntnis des Seins in ihrer Identität der eigentliche Schauplatz des Geistes, sagt Lévinas (vgl. WGD, 153f.).
Ontologie ist das Denken, das von dem einen Ursprung ausgeht und zu dem einen Ziel zurückkehrt. Durch den Geist kann der Mensch teilhaben an diesem Ursprung und an diesem Ziel. Der Geist verfolgt so gleichsam das Ziel der Rückkehr zu sich selbst.
»Der Weg der Philosophie bleibt der des Odysseus, dessen Abenteuer in der Welt nichts anderes als die Rückkehr zu seiner Geburtsinsel war – ein Sich-Gefallen im Selben, ein Verkennen des Anderen.« (HaM, 33)
Lévinas stellt dieses Denken in Frage. Sollte alles, was ist, letztlich rückführbar sein auf denselben Ursprung, denselben Ausgangspunkt? Sollte die Vielfalt aller Einzelphänomene, die Variationsbreite der Erscheinungsweisen des Seins doch nur eine Ausfaltung des Einen und Allgemeinen sein?
Lévinas sucht einen Weg, der der Andersheit und der Mannigfaltigkeit der Einzelphänomene gerecht wird. Es ist ein Weg, der nicht von den allgemeinen Prinzipien ausgeht, sondern von der Singularität des einzelnen Seienden, vom Reichtum der Andersheit, von echter Pluralität.
Fehlende Wertschätzung von Andersheit
Die ontologische Reflexion des Seins ist nach Lévinas einseitig (zur Darstellung seiner Kritik an der abendländischen Tradition vgl. Staudigl, 28ff.). Wo bleibt das Andere, wenn alles auf das Selbe, das Allgemeine, das Prinzipielle zurückgeführt wird? Das einzelne Seiende, das Individuum in seiner Originalität bedeutet und zählt nicht – oder nur, insofern es einer Allgemeinheit angehört. Alles, was als sinnlich Einzelseiendes erscheint, wird in dieser Tradition auf einen ersten nicht-sinnlichen Grund und ein letztes nicht-sinnliches Ziel bezogen.
»Wenn im philosophischen Leben […] ein diesem Leben Fremdes auftaucht, etwas anderes – die Erde, die uns trägt, der Himmel, der uns erhebt und uns nicht kennt, die Kräfte der Natur, die uns vernichten und uns beistehen, die Dinge, die uns hinderlich sind und uns nützen, die Menschen, die uns lieben und uns knechten – so ist es ein Hindernis. Man muss es überwinden und in dieses Leben integrieren. Und die Wahrheit ist eben dieser Sieg und diese Integration.« (SpA, 188)
Doch ist es wirklich ein Sieg, wenn das Fremde überwunden wird? Nach Lévinas kommt es einem Gewaltakt gleich, das Andere nicht in seiner Eigenart zu schätzen. Gilt das Primat des Selben, wird das Andere nicht gewürdigt. Die Besonderheit des Anderen gilt dann nicht als Auszeichnung, sondern als Störung, als Hindernis, als Abweichung vom Eigentlichen. Andersheit hat dann nicht eine eigene irreduzible Qualität, sondern steht unter der Optik des Fremden, des Vorläufigen, des Nochnicht-Selben.
In der ontologischen Tradition ging die Philosophie den Weg der Angleichung des Anderen an das Selbe, des Be-greifens von Andersheit, der Identifizierung – und damit der Vereinnahmung des Anderen. Unsere abendländische Geschichte ist voll von identifizierenden Übergriffen: Zwangsmissionierung Angehöriger anderer Religionen; kulturelle Überformung Eingeborener während des Kolonialismus; »Umerziehung« ethnischer Minderheiten oder von Menschen mit anderen Lebensentwürfen. Und sie kennt Kapitel der gewaltsamen Vernichtung der Andersheit, weil die Identifizierung, die Angleichung nicht gelungen ist. Man denke an die dunklen Kapitel der Hexenverfolgungen oder Judenprogrome durch die Jahrhunderte hindurch.
»Die Eroberung des Seins durch den Menschen im Laufe der Geschichte – das ist die Formel, in der sich die Freiheit, die Autonomie, die Reduktion des Anderen auf das Selbe zusammenfassen lassen. In dieser Reduktion des Anderen auf das Selbe stellt sich nicht irgendein abstraktes Schema dar, sondern das menschliche Ich. Die Existenz eines Ich verläuft als Verselbigung des Verschiedenen. « (SpA, 186)
Lévinas sucht einen ethischen Weg, der bei der Andersheit beginnt, in ihr nicht die Abweichung vom Selben sieht, sondern ihm eine ganz andere Weise zu sein zugesteht. Ihm ist es dabei gerade nicht um das Erkennen oder Verstehen einer Andersheit zu tun, sondern um Begegnung und Beziehung. Denn nur die Begegnung mit etwas, das wirklich anders ist als das eigene Ich, erlaubt ein Über-sich-selbst-Hinaus, erlaubt eine wirkliche Transzendenz.
Fehlen einer echten Transzendenz
Für Lévinas hat die ontologische Tradition mit einer einseitigen Vernunftbetonung und einem Identitätsdenken diese Transzendenz eingebüßt.
Exkurs
Transzendenz
Vom Ursprung des lateinischen Wortes (vgl. transcendere = überschreiten) kann Transzendenz als eine Bewegung über die Grenzen des eigenen Selbst hinaus gedeutet werden. In der klassischen abendländischen Metaphysik bedeutete Transzendenz das Denken über den Bereich der konkreten sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene hinaus auf einen jenseits des eigenen Bewusstseins liegenden Ursprung. Im Laufe der abendländischen Denkgeschichte erfuhr dieser Transzendenzbegriff Kritik von verschiedenen Philosophen, u.a. Kant, Marx und Feuerbach, Nietzsche, Heidegger (vgl. Halder 2008, 337f.).
Auch Lévinas gehört zu den Kritikern eines solchen Transzendenzverständnisses. Für ihn ist diese Art der Transzendenz nicht radikal und unendlich, sondern beseelt vom Wunsch, zur Ruhe zu kommen, im Selben anzukommen. Wenn das Bewusstsein alles auf das Allgemeine und Identische zurückführt, wenn alles, was anders