Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp

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dann, wenn wir nicht einen wirklichen, sondern einen vernünftigen Konsens verlangen, um von ‚Wahrheit‘ reden zu können. Wir verlangen von wissenschaftlichen Aussagen dann nur, sie müssten vernünftig akzeptierbar sein und ihre Geltung hängt davon ab, dass sie eine vernünftig begründete Zustimmung finden. In der Regel geht es dabei um die Zustimmung derjenigen Wissenschaftler, die im gleichen Spezialgebiet arbeiten. Wissenschaftliche Aussagen gelten in diesem Fall also deshalb, weil sie für die ‚scientific community‘ akzeptabel sind, weil in ihr nicht per Abstimmung über die Akzeptanz von Theorien entschieden wird, sondern weil sie das Ergebnis vernünftiger Argumentationszusammenhänge darstellen.

      Das schließt die Notwendigkeit von Kohärenz jedoch nicht aus, denn die vernünftige Abwägung bezieht sich vor allem auf die Frage, ob sich neue Theorien an das anschließen lassen, was bereits in gerade dieser Gemeinschaft der Wissenschaftler als geltend anerkannt ist. Es kommt nur selten vor, dass eine zunächst nicht anschließbare Theorie mithilfe umfangreicher Änderungen im bisherigen Wissensbestand akzeptiert wird. Müsste der bisherige Wissensbestand aber als vollständig falsch gelten, um eine neue Theorie akzeptieren zu können, so würde kein Wissen mehr vorhanden sein, um die vernünftige Akzeptierbarkeit einer neuen Theorie überprüfen zu können. Die newtonsche Mechanik koexistiert mithilfe einer Korrektur ihres Anwendungsbereiches auch mit der Quantenmechanik und subatomare Strukturen werden mithilfe der alten Begriffe von ‚Wellen‘ und ‚Partikeln‘ verstanden, obwohl keiner der beiden zu ihrer Beschreibung ausreicht.

      Wenn wir für wissenschaftliche Aussagen beanspruchen, sie könnten/müssten ‚wahr‘ sein, dann können wir den zunächst als selbstverständlich angenommenen Weltbezug der Wissenschaft offenbar in radikal unterschiedlichen Weisen auffassen. Folgen wir einer Konsenstheorie, so gibt es keine Möglichkeit, sich gegen die herrschende Meinung abzusetzen und zu behaupten, ein Satz sei wahr, auch wenn alle anderen ihm nicht zustimmen. Eine solche Möglichkeit wird jedoch vor der Auffassung bewahrt, wissenschaftliche Aussagen müssten ‚wahr‘ im Sinne einer Übereinstimmung mit der Welt sein. Hier bleibt es im Prinzip immer offen, ob sich nicht vielleicht alle irren, die der gerade herrschenden wissenschaftlichen Theorie über ein bestimmtes Sachgebiet folgen, und eventuell gerade die Auffassung Geltung beanspruchen könne, die von allen Wissenschaftlern zu einer bestimmten Zeit abgelehnt wird. Vergleichbar ist die Lage dann, wenn wir vernünftige und nicht nur tatsächliche Zustimmung verlangen. Auch dann bleibt stets die Möglichkeit offen, dass sich alle irren, die sich einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie verschrieben haben, und dass der eine, der eine andere Auffassung vertritt, insofern recht hat, als seine Theorie mit besserem – weil vernünftigerem – Recht Geltung beanspruchen kann.

      Hegel hatte dieses Problem von der Welt her gedacht so auf den Punkt gebracht: das ‚Absolute‘ muss bei uns sein wollen, wenn wir eine solche Auffassung durchführen wollen. Das Problem dabei ist offenbar, dass wir mit einer solchen Konzeptualisierung des Sich-zur-Sprache-Bringens der Welt in unseren Sprachen beträchtliche metaphysische Verpflichtungen eingehen müssen, die wir vermutlich nicht ohne Weiteres auf uns nehmen werden. Von der Sprache her gedacht hat Ludwig Wittgenstein im ‚Tractatus logico-philosophicus‘ ausführlich dargelegt, wie wir uns eine Sprache denken müssen, in der die Welt und ihre Sachverhalte sich selbst zum Ausdruck bringen können. Das dabei entstehende Problem, ob unsere wissenschaftliche Sprache dieser idealen Sprache entspricht oder entsprechen kann, hat Wittgenstein in seinem späteren Werk ‚Philosophische Untersuchungen‘ eingehend erörtert, und das Ergebnis war negativ. Unsere Sprachen sind durchaus nicht so, dass wir uns eine solche Angepasstheit an die Welt als solche vorstellen könnten, und wollten wir eine Sprache entsprechend konstruieren, damit sie diese Bedingung erfüllt, so würden wir sie nicht mehr verstehen, denn sie würde gegen fundamentale Voraussetzungen der Verwendung der Sprache zur Verständigung verstoßen.

      In dieser Lage könnten wir also doch versucht sein, uns mit der rationalen Akzeptierbarkeit unserer wissenschaftlichen Aussagen zu bescheiden, die gegenüber einer bloßen Konsenstheorie den Vorteil hat, dass stets die Möglichkeit offen gehalten wird, dass jeder faktische Konsens in der Gemeinschaft der Wissenschaftler sich als falsch herausstellen könnte. Aber in diesem Fall können wir das wissenschaftliche Wissen gegenüber anderen Wissensformen nicht mehr mit einer besseren Einsicht in unsere Beziehungen zur Welt rechtfertigen. Allerdings können wir auch auf der Grundlage der Behauptung, wissenschaftliche Aussagen könnten sich nur durch ihre Übereinstimmung mit Sachverhalten in der Welt ausweisen, nicht auf das Argumentieren und damit auf das Gründegeben verzichten. In der Wissenschaft müssen für jede Behauptung über eine bessere Einsicht Gründe angegeben werden. Darin verwandelt sich die vermeintlich bessere ‚Einsicht‘ in die Welt auf jeden Fall in ein Argumentieren. Das gilt auch dann, wenn der Verteidiger einer nach seiner Vermutung besseren Einsicht eigentlich für die Wahrheit seiner Weisheit nur seine exklusive Beziehung zur Welt, wie sie an sich selbst ist, heranziehen wollte. In der Wissenschaft transformiert sich seine Vorstellung von selbst, indem sie Wirklichkeit nur durch den Eintritt in das Bemühen um rationale Überzeugung gewinnt.

      Auf dieser Grundlage kann die Wissenschaftsphilosophie etwa gegen eine evolutionäre Auffassung des Wissens darauf verweisen, dass die Erklärungsansprüche der Naturwissenschaften sich nicht nur durch Anpassungserfolge und damit durch die biologische Selbsterhaltung ausweisen. Sie sind Leistungen eines sprach- und vernunft-begabten ‚Tieres‘, das zugleich ein ‚politisches‘ Lebewesen ist, weil es mit anderen Menschen zusammenlebt und mit ihnen Wissen erwirbt. Es lebt im Raum der Gründe, wo es anderen gegenüber nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Wissen begründet. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützen sich deshalb keinesfalls nur auf die Beziehung des Menschen zur Natur, sondern ebenso auf die Begründungszusammen-hänge zwischen Menschen. Der Mensch ist ein Wesen mit Gründen, die er in seinen Handlungen realisiert, und diese Gründe verweisen auf ein Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit anderen sich selbst verstehenden Wesen. Wissen, wie die Naturwissenschaft es beansprucht, ist also nur in einem sozialen Raum möglich, in dem der Mensch als ein soziales Lebewesen lebt.

      Wenn wir also Gründe geben, um uns für oder gegen eine bestimmte wissenschaftliche Theorie zu entscheiden, so halten wir uns nicht einfach an die ‚Sachen an sich‘, sondern an einen Prozess des Gründegebens, der im Dialog bzw. im Gespräch zwischen Menschen stattfindet. Wir halten uns dabei auch nicht an eine Vernunft an sich, die unabhängig vom Dialog irgendwo in der Welt herumliegen würde und uns sagen könnte, was für uns ‚Gründe‘ sind. Das soll keineswegs heißen, dass die Vernunft keine Rolle spielt. Aber wir müssen auf den Begriff der ‚Vernunft‘ den gleichen Gedanken anwenden wie auf den Begriff der ‚Wahrheit‘. Dann können wir nicht sagen, es gebe so etwas wie ‚Vernunft‘, wie es Katzen, Verkehrshindernisse oder Überschwemmungen gibt. Es ist nicht etwas ‚da draußen in der Welt‘, sondern es handelt sich um einen Begriff, der mit Gründen und Gegengründen bestimmt wird. Der Begriff der ‚Vernunft‘ erhält gerade durch diesen Prozess des Begründens eine gute Bestimmung, die freilich wieder mit Gründen in Frage gestellt werden und mit Hilfe von anderen Gründen gestützt werden kann.

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