Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp
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Wo die Philosophie beginnt, beschrieb Wilfrid Sellars so: „The ideal aim of philosophizing is to become reflectively at home in the full complexity of the multi-dimensional system in terms of which we suffer, think, and act.“2 Das entscheidende Wort für die Unterscheidung der Philosophie von anderen Formen des Denkens, Wissens oder der Überzeugungen über die Welt und das Leben der Menschen hat Sellars selbst kursiv setzen lassen: ‚reflectively – auf eine reflektierte Weise‘. Mit der Welt bekannt sein können wir offenbar auch auf andere Weise, etwa durch das Wissen der Naturwissenschaft, mithilfe unserer Alltagsüberzeugungen, mit denen wir in der Regel ganz gut zurechtkommen, oder auch auf der Grundlage von umfassenden Zusammenhängen von Gedanken über die Welt, wie wir sie in religiösen Systemen finden können. Aber keine dieser Wissens- und/oder Glaubensformen genügt dem Kriterium ‚reflektiv‘, das Sellars für die Philosophie reserviert.
Ein sehr allgemeines Verständnis für dieses Kriterium könnte so beschrieben werden. In der Wissenschaft ebenso wie in Systemen von Glaubensüberzeugungen geht es um Beschreibungen und Erklärungen für die Welt der Tatsachen bzw. der Dinge – was sie sind, wie sie sind, warum sie so sind, und auf welche Weise wir sie am besten nach unseren Wünschen beeinflussen können. In der Philosophie dagegen wird ‚zurück-beugend‘ – ‚reflektiert‘ wörtlich übersetzt – gedacht, d. h. das hier gesuchte Wissen bezieht sich auf eben die Beschreibungen und Erklärungen für die Welt der Tatsachen und Dinge, über die wir in der Wissenschaft ebenso wie in Systemen von Glaubensüberzeugungen und im alltäglich-lebensweltlichen Wissen Auskunft gewinnen wollen. Das philosophische Wissen bezieht sich also auf die begrifflichen und gedanklichen Mittel, mit denen wir nach einem ‚direkten‘ Wissen von der Welt streben. Man könnte die Unterscheidung deshalb auch mithilfe der Ausdrücke ‚intentio recta‘ und ‚intentio obliqua‘ beschreiben. Die erstere Intention richtet sich direkt auf die Dinge und Tatsachen, die letztere dagegen auf die Gedanken und Begriffe, mit denen wir uns in der intentio recta auf die Welt beziehen.
Auf dieser Grundlage lässt sich der gegenwärtige Stand des Denkens der Wissenschaftsphilosophie gut anhand der Unterscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus verdeutlichen, wie ihn Ian Hacking formuliert: „Der wissenschaftliche Realismus besagt, dass die von richtigen Theorien beschriebenen Gegenstände, Zustände und Vorgänge wirklich existieren.“3 Der ‚wissenschaftliche Realismus‘ erhebt also einen bestimmten Anspruch. Die ältere Wissenschaftsphilosophie hätte diesen in einem Satz formulierten Anspruch nach seinem Aussagewert aufgefasst und für diese Position oder für die entgegengesetzte Position des Anti-Realismus oder ‚Idealismus‘ argumentiert. Auf dem gegenwärtigen Stand dagegen wäre ein solches Argumentieren hoffnungslos veraltet.
Der neue Zugang zu einer solchen Position, wie Hacking sie hier beschreibt, stützt sich vielmehr auf ein Argumentieren, das sich auf die verwendeten Begriffe ‚wirklich‘ und ‚existieren‘ und auf ähnliche Ausdrücke wie ‚wirklich richtig‘ oder ‚wahr‘ oder ‚es gibt‘ richtet. Was ist damit gemeint und was meinen wir, wenn wir uns mit diesem Meinen auf ‚die Welt‘ beziehen? Natürlich würde die Position eines Anti-Realismus die gleiche Behandlung vonseiten der modernen Wissenschaftsphilosophie erfahren. Was soll es heißen, dass es so etwas wie Elektronen ‚nicht gibt‘ oder dass sie nicht ‚etwas Wahres‘ darstellen? Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Positionen wäre deshalb eine Position, die heute nicht mehr eingenommen werden kann. Wohl aber kann man danach fragen, wie solche Ausdrücke wie ‚richtig‘, ‚wahr‘, ‚existieren‘ oder ‚es gibt‘ verwendet werden, was zwischen einem Sprecher, der solche Ausdrücke verwendet, und seinem Zuhörer geschieht, welche Ansprüche damit erhoben werden, wie man auf sie reagiert und wie man die erhobenen Ansprüche einlöst.
Wenn Wissenschaftler also behaupten, die Welt sei genau so, wie die Naturwissenschaft – und in erster Linie die Physik – es uns erklärt, und hinzufügen, es gebe das alles, von dem die Physik sagt, ‚Das gibt es‘, und betonen, das sei alles wirklich so, wie die Gesetze der Physik es beschreiben, dann ist das aus der Perspektive der Wissenschaftsphilosophie gar nicht so falsch. Also steht die Naturwissenschaft doch in Kontakt mit der Welt, wie sie an sich ist, und erklärt uns, wie die Wirklichkeit von Anbeginn der Zeit und bis in alle Ewigkeit hin war, ist und sein wird? Äh, jein. Der Philosoph muss auch an dieser Stelle den Spielverderber spielen, ohne aber einfach widersprechen zu können – er kann nur und immer wieder die lästige Antwort geben, die man eigentlich von Juristen erwartet: ‚Das kommt darauf an‘. Und worauf kommt es an? Nun, natürlich darauf, wie man solche Ausdrücke wie ‚es gibt‘ und ‚es ist‘ und ‚wirklich‘ und ähnliche versteht.
Wenn die Philosophie ‚Reflexion‘ ist und sich damit weder mit der empirischen Wirklichkeit (direkt) befasst noch Begriffsanalyse ist, so ist sie eine Erweiterung des Denkhorizontes der Wissenschaft und ihrer Theoriebildung über die ‚Welt‘. Ist sie damit ‚wahrer‘? Ist sie damit ‚näher‘ an der Wirklichkeit? Nein, denn natürlich gilt für sie das Gleiche wie für die Wissenschaft selbst. Wissenschaft ist grundsätzlich die (Selbst-)Explikation eines bestimmten Denkhorizontes. Nichts anderes ist die Philosophie, die ihre Geschichte hat und diese Geschichte expliziert. Die Philosophie kann die Naturwissenschaften nicht erkenntnistheoretisch ‚fundieren‘, sondern nur auf sie reflektieren und sie damit aufklären – was wiederum eine Aufklärung nur für jemanden darstellt und nicht für jedermann, d. h. ihre Akzeptanz ist denkgeschichtlich voraussetzungsvoll. Aber die Reflexion gehört zu einem vollständigen Verständnis dessen, was in der Wissenschaft geschieht. Durch die wissenschaftsphilosophische ‚intentio obliqua‘ kann eine Aufklärung über den Status dieser Erkenntnis gewonnen werden. Für das menschliche Selbstverständnis ist es gerade heute in der Zeit des Vordringens der reflexionslosen Gehirnforschung in die Formung der Art, wie wir uns selbst aufzufassen haben, entscheidend, wie wir Wissenschaft, also das Wissen in der ‚intentio recta‘, aufzufassen und zu verstehen haben. Alternative Wissensformen wie Glaubenssysteme können daraus ihren Standort besser bestimmen und erkennen, wie weit sie durch Wissenschaft bedroht werden oder vielleicht auch nicht.
1Der Ausdruck ‚Antinomie des Realismus‘ stammt von Hilary Putnam (The Dewey Lectures 1994: Sense, Nonsense, and the Senses: An Inquiry into the Powers of the Human Mind, in: Journal of Philosophy 91/1994, S. 445–517, S. 456). In diesen Vorträgen beschreibt Putnam das Problem auch so, dass wir uns eine Welt vorstellen müssten, „in which there are, as it were, ‚noetic rays‘ stretching from the outside into our heads“. (Putnam, a. a. O., S. 461) Putnams eigener Vorschlag zur Auflösung dieser Antinomie bestand übrigens in dem Vorschlag „zum natürlichen Realismus des einfachen Mannes“ zurückzukehren, also mit Hegel gesprochen, zum natürlichen Bewusstsein, und es dabei bewenden zu lassen (Putnam, The Threefold Cord: Mind, Body, and World, New York 1999, S. 15).
2Sellars, W., The Structure of Knowledge, in: Castaneda, H.-N., Hg., Action, Knowledge, and Reality, Indianapolis 1975, S. 295–347, S. 295.