Die Befragung. Armin Scholl
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Zwei wesentliche Impulse für die Befragung speziell in der Kommunikationswissenschaft haben Max Weber und das Forscherteam um Paul F. Lazarsfeld gesetzt. Weber stieß bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die empirische Journalismusforschung an und arbeitete eine »Soziologie des Zeitungswesens« aus, [16]die er auf dem ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910 vorstellte. Die geplante Zeitungsenquête sollte Erkenntnisse über die Materialbeschaffung der Medien und über die Merkmale der Journalisten erbringen.3 Dass die Untersuchung nicht realisiert werden konnte, lag an einem Professorenstreit und an mangelnder Unterstützung. Außerdem wurde in der Folgezeit eine Redakteursumfrage – allerdings ohne Beteiligung Webers – geplant und durchgeführt. Ihre Auswertung kam aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zustande. Die Fragebögen gelten heute als verschollen (vgl. Kutsch 1988: 5f., 15).
Lazarsfeld wurde neben der eher soziologischen Untersuchung über die »Arbeitslosen von Marienthal« mit der 1931 durchgeführten Befragung von Radiohörern für die »Radio und Verkehrs-AG« (RAVAG) bekannt, die als Beginn der Rezipientenbefragung gelten kann. In standardisierten Fragebögen wurden 50 Radioprogramme aufgelistet, zu denen die Hörer angeben sollten, ob sie diese Programmelemente »häufiger, weniger oder in der bisherigen Menge« zu hören wünschten. Daneben wurden die soziodemografischen Merkmale erhoben, um Korrelationsanalysen durchführen zu können. Insgesamt wurden von den überall ausgelegten Fragebögen 38.000 von insgesamt 110.000 Personen (zum Teil Familienmitglieder) ausgefüllt (vgl. Neurath 1990: 77ff.).
Beide Pionierstudien der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, die über das Planungsstadium nicht weiter verfolgte Zeitungsenquête Webers wie die in wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht folgenreiche Radiohörerstudie Lazarsfelds, gingen mit einer großen Selbstverständlichkeit theoretisch interdisziplinär vor und verknüpften methodisch quantitative und qualitative Verfahren (vgl. Reimann 1989: 34, 37). Während Webers Forschungsvorhaben trotz der Relevanz der Fragestellungen keine Resonanz erzeugte und lange Zeit von keinem Publizistik- oder Kommunikationswissenschaftler aufgenommen wurde, konnte Lazarsfeld die Radiohörerforschung nach seiner Emigration in die USA im Rahmen des »Radio Research Project« am »Office of Radio Research« fortsetzen, mit dem er 1937 an der Princeton University begann und das er 1939 an der Columbia University in New York weiterführte. Daraus entstand 1944 das »Bureau of Applied Social Research« (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 12f.), von dem auch die ersten Panelbefragungen zur Erforschung des Wahlverhaltens konzipiert und durchgeführt wurden. Diese Studie »The People’s Choice« und die Folgestudien stießen die Forschung um die Hypothese des »Two-Step-Flow of Communication« an und bauten sie empirisch aus.
[17]Die empirische Erforschung der öffentlichen Meinung mit Umfragen reicht wahrscheinlich bis ins 19. Jahrhundert zurück: Bereits im Vorfeld der U.S.-Präsidentschaftswahl von 1824 sollen erste »straw polls« als Probeabstimmungen der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Die Zeitschrift »Literary Digest« verschickte 1928 rund 18 Millionen Wahlzettel an die Abonnenten und sagte den Präsidentschaftskandidaten in der Wahl von 1928 korrekt voraus. Allerdings schlug die Vorhersage von 1936 fehl. Das von George Gallup 1935 gegründete »American Institute of Public Opinion« war erfolgreicher, weil Gallup eine Zufallsstichprobe nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln zog, welche die U.S.-amerikanische Gesellschaft repräsentierte, während die Stichprobe von »Literary Digest« offensichtlich politisch verzerrt war. Gallup erlebte zwar 1948 ebenfalls ein Debakel, als sein Institut den falschen Kandidaten als Sieger prognostizierte, aber er gilt in zweierlei Hinsicht als wegweisend: aufgrund seiner theoretisch fundierten Stichprobenziehung und weil er mit Meinungsumfragen nicht nur Wahlen vorhersagen wollte, sondern sie von Anfang an konsequent an die Erfassung der öffentlichen Meinung koppelte (vgl. Keller 2001: 31ff., 47ff.).
Die akademische Erforschung der öffentlichen Meinung geht auf Hadley Cantril und sein 1940 in Princeton gegründetes »Office of Public Opinion Research« zurück. 1941 wurde das »National Opinion Research Center« (NORC) an der Universität Chicago gegründet, das sich zum führenden akademischen Institut der Meinungsforschung entwickelte (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 13f.).
In Deutschland wurde das erste »Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften« unter der Leitung von Leopold von Wiese 1919 an der Universität Köln gegründet, das sich später zur Hochburg einer empirischen Forschung nach den Regeln des »Kritischen Rationalismus« entwickeln sollte. 1924 entstand in Frankfurt/Main das »Institut für Sozialforschung«, an dem die »Kritische Theorie« von Max Horkheimer (Institutsdirektor seit 1930), Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm u.a. erarbeitet wurde (vgl. Diekmann 2011: 110). Die Befragungen in der Zeitungswissenschaft, dem Vorläuferfach der heutigen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, blieben dagegen sporadisch (vgl. Meyen 2002: 60ff.).
In der Nachkriegszeit wurde die empirische Sozialforschung vor allem in Westdeutschland durch die Kölner Soziologen René König (als Nachfolger von Leopold von Wiese) und Erwin K. Scheuch vorangetrieben. Das an der Universität Köln 1960 gegründete (und von 1963 bis 1990 von Scheuch geleitete) »Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung« (ZA) sowie das 1974 gegründete »Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen« (ZUMA) in Mannheim fördern die Entwicklung empirischer Methoden, führen aber kaum im engeren Sinn Kommunikationsforschung durch. Der vom ZUMA seit 1980 im zweijährigen Abstand [18]durchgeführte »ALLBUS« hat 1998 (einmalig) auch einige Fragen zur Mediennutzung aufgenommen.4 Das ZA dokumentiert und archiviert empirische Datensätze und stellt sie für wissenschaftliche Sekundäranalysen zur Verfügung. Daneben bibliografiert das Bonner »Informationszentrum« (IZ) die empirisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur. ZUMA, ZA und IZ schlossen sich Ende der 80er Jahre zur »Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen« (GESIS) zusammen (vgl. Diekmann 2011: 114), die sich seit 2008 »GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften« nennt.
In der DDR war eine eigenständige Meinungsforschung weitgehend unbekannt bzw. blieb unsichtbar. Dabei gab es durchaus Befragungsstudien mit wissenschaftlichem Anspruch. So führte die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees bereits 1951 eine Kombination aus Einzelgesprächen (in Haushalten und in Betrieben), Gruppendiskussionen (in Betrieben) mit Akten und Statistiken zur Akzeptanz der Parteipresse in den Verbreitungsgebieten der Sächsischen Zeitung und der Chemnitzer Volksstimme durch. Mitte der 50er Jahre wurden auch Hörer von Radio DDR zum Programm befragt. Die vom Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR 1956 gegründete Hörerforscherabteilung orientierte sich an den Standards in den USA und in der Bundesrepublik (vgl. Meyen 2002: 75f.). Das Zentralkomitee der SED institutionalisierte 1964 mit der Einrichtung des »Instituts für Meinungsforschung« sogar die Umfrageforschung, um die Wirksamkeit staatlicher Propaganda zu erforschen. Aber weder war nach außen sichtbar, dass es sich um ein Institut der SED handelte, noch wurden die Ergebnisse veröffentlicht. 1979 wurde es aus politischen Gründen geschlossen und das Archiv vernichtet, sodass nur wenige Forschungsberichte und Unterlagen existieren (vgl. Niemann 1993: 17ff.).
Neben der akademischen Sozialforschung betreiben kommerzielle Markt- und Meinungsforschungsinstitute angewandte Markt-, Meinungs- und Medienforschung. Wegweisend für ihre Entwicklung nach dem Krieg ist der Zusammenschluss von mittlerweile 40 deutschen Markt- und Meinungsforschungsinstituten zum »Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V.«, der 1955 – damals noch unter dem Namen »Arbeitskreis für betriebswirtschaftliche Markt- und Absatzforschung e.V.« – gegründet wurde. Er vertritt die Interessen der Mitgliedsinstitute und entwickelt für sie Qualitätskriterien und ethische Standards (vgl. ADM / AG.MA 1999: 159ff.).
Der Aufbau eines ADM-Stichproben-Systems erfolgte in den 50er und 60er Jahren aufgrund der zunehmenden praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten, [19]auf die Daten der Einwohnermeldeämter zurückzugreifen. Außerdem sollte auf diese Weise ein für alle beteiligten Institute einheitliches und verbindliches System der Stichprobenplanung geschaffen