Die Befragung. Armin Scholl

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Merkmale, für die hinreichend viele Befragte ausgesucht werden müssen. (vgl. Kelle / Kluge 2010: Kapitel 3).

      [26]Während bei standardisierten Umfragen der Forscher viele und anonyme Daten theoriegeleitet oder ad hoc interpretiert, wird bei qualitativen Befragungen die Deutung bestimmter Sachverhalte zwischen dem Interviewer (bzw. Forscher) und dem Befragten »ausgehandelt«. Qualitative Forscher interessieren sich folglich mehr für die Alltagstheorien der Befragten als für akademische Theorien (vgl. Rubin / Rubin 2005: 12ff.; Kvale / Brinkmann 2009: 26f., 57f.).

      Weiterhin korrespondieren quantitativ-standardisierte Verfahren eher mit deduktiver Vorgehensweise und qualitativ-offene Verfahren eher mit induktiver Vorgehensweise. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass standardisierte Verfahren immer theoriegeleitet sein müssen und offene Verfahren immer von den »Daten« ausgehen müssen, aber erstere erfordern schon bei der Fragebogenentwicklung eine deduktive Vorgehensweise, während letztere nur wenige Vorgaben machen und flexibel auf die Befragten reagieren.10 Die qualitative Sozialforschung bevorzugt deshalb oft eine »abduktive« Logik, welche eine eher dialektische Beziehung zwischen theoretischen Annahmen und empirischen Ergebnissen unterstellt (vgl. Kelle / Kluge 2010: 21ff.), während bei der quantitativen Sozialforschung induktive und deduktive Logik quasi nebeneinander stehen oder zeitlich einander folgen.

      Die Gütekriterien qualitativer Forschung sind Transparenz, Konsistenz und Kohärenz sowie Kommunikabilität. Transparenz wird hergestellt über die möglichst vollständige Dokumentation der Transkripte vom Interviewgespräch und der Kategorisierungsschritte bei der Analyse. Konsistenz entspricht der Reliabilität in der standardisierten Forschung und bezieht sich auf die Auskünfte der Befragten. Allerdings sollen Inkonsistenzen nicht vermieden oder ausgeschlossen, sondern verstanden werden oder erklärbar sein. Konsistenz betrifft daneben auch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Interview- und lebensweltlicher Situationen.

      [27]Kohärenz bezieht sich auf die Themen der Befragung und meint den thematischen Bezug der Aussagen des Befragten, der bei der Auswertung festzustellen ist. Die Kommunikabilität in der qualitativen Forschung korrespondiert mit der Validität in der quantitativen Forschung. Die gemeinsame Aushandlung von Bedeutung wird bei der Ergebnisdokumentation sichtbar gemacht in Form von Zitaten der Befragten11 (vgl. Rubin / Rubin 2005: 264; Kvale / Brinkmann 2009: 279ff.).

      Die Methoden der Auswertung unterscheiden sich ebenfalls von denen der standardisierten Forschung, aber sie unterscheiden sich auch innerhalb der qualitativen Forschung. Die Interviewer oder Befragten füllen keinen Fragebogen aus, sondern das Gespräch wird aufgezeichnet und liegt damit als Rohtext vor, der nicht wie bei der quantitativen Inhaltsanalyse in numerische Symbole überführt, sondern in abstraktere Textformen transformiert wird. Die qualitative Auswertung einer qualitativen Befragung reicht von der »quasi-nomothetischen« Vorgehensweise, die teilweise – ähnlich wie die standardisierte Auswertung – vom Kontext abstrahiert und generalisiert, bis zur »konsequent-idiografischen« Vorgehensweise, die sich auf den Einzelfall bezieht und in diesem sich ausdrückende allgemeine Strukturen aufdeckt (vgl. Flick 1995: 163f.).

      Für die »quasi-nomothetische« Vorgehensweise steht die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse12, bei der induktiv (vom Einzelfall ausgehend) und iterativ (schrittweise) Kategorien13 gebildet werden (vgl. Kvale / Brinkmann 2009: 201208). Die Analyse kann in zwei Richtungen erfolgen: Durch die Abstrahierung der Aussagen der Befragten werden diese induktiv mehrdimensional typologisiert (analog dem statistischen Verfahren der Clusteranalyse). Durch die Vorgabe bestimmter soziodemografischer oder theorierelevanter Merkmale werden die Befragten in Gruppen unterteilt und in der Auswertung wird nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in Bezug auf weitere relevante Merkmale gesucht und entspricht damit in etwa der Logik des statistischen Verfahrens der Varianzanalyse (vgl. Kelle / Kluge 2010: 38f., 43ff.).

      [28]Eine »konsequent-idiografische« Vorgehensweise verfolgen diverse Methoden der Textanalyse wie die Ethnografie, die Konversationsanalyse oder hermeneutische Verfahren des Textverstehens (vgl. Titscher et al. 1998: 107ff., 121ff., 142ff., 247ff.). Diese Verfahren beziehen den kulturellen Kontext und die konkrete Entstehungssituation des Textes im Interviewprozess ein und orientieren sich an der Sequenzialität des Textes.

      Schließlich werden mit der Verwendung der Forschungsphilosophien auch unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft verbunden: Dienen die Ergebnisse standardisierter Forschung eher der sozialtechnologischen Veränderung von Gesellschaft, weil der Auftraggeber allein über sie verfügt, wird mit qualitativer Forschung oft eine emanzipatorische Absicht verbunden; dies kommt besonders in der »Aktionsforschung« (»Handlungsforschung«) zum Ausdruck, bei der die Befragten in die Lage versetzt werden sollen, ihre Probleme (mit Unterstützung des Forschers) selbst zu lösen (vgl. Heinze 2001: 80ff.).14

      Allerdings müssen die Grenzen zwischen qualitativen und quantitativen Methoden nicht scharf gezogen werden, wenn man die Differenzen nicht grundsätzlich, also forschungsphilosophisch-methodologisch, sondern abhängig von der Forschungsfrage, also pragmatisch-technisch, behandelt.15 Neben dem allgemeinen Vergleich in diesem Exkurs werden in den weiteren Kapiteln konkrete standardisierte und offene Verfahren beschrieben (→ Kapitel 3), die Vorteile und Nachteile offener Fragen im Vergleich zu Fragen mit vorgegebenen Antworten (→ Kapitel 5.4.) und die Standardisierung der Befragungssituation (→ Kapitel 6.3 und 6.4) diskutiert sowie die unterschiedliche Eignung quantitativer und qualitativer Verfahren bei der Befragung spezieller Populationen (Kinder, Alte, Ausländer, Elite-Personen) erörtert (→ Kapitel 7.4).

      1 Jacob / Eirmbter / Décieux (2013: 6ff.) setzen den Beginn der Umfrageforschung zeitgleich mit der Quantifizierung und sogar mit der Entstehung der Sozialwissenschaften selbst an, in der Neuzeit also bereits im 17. Jahrhundert. Das Aufkommen statistischer Analysen kann dabei nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung der Methode Befragung sein, denn Daten lassen sich auch aus Dokumenten erfassen. Dem Fazit der beiden Autoren kann dagegen zugestimmt werden: »Umfrageforschung hat keine demokratisch verfassten Gesellschaften zur Folge, aber Umfrageforschung setzt demokratisch verfasste Gesellschaften voraus.« (Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 20)

      2 Die Zeitschrift »Planung und Analyse« dokumentierte 1983 den »Fragebogen für Arbeiter«, den Karl Marx im Jahr 1880 in 25.000 Exemplaren als Beilage einer Zeitschrift in Frankreich verbreitete. Solche Befragungen zur wirtschaftlichen Lage der Arbeiter oder der Armen wurden im 19. Jahrhundert und bereits vorher durchgeführt (vgl. Noelle-Neumann / Petersen 1996: 620ff.; Diekmann 2011: 99ff.).

      3 In diesem Kontext entwarf Weber auch eine Inhaltsanalyse, sodass er für diese Methode ebenfalls als Pionier gelten kann (vgl. Weber 1911: 52).

      4 Eine ausführliche, methodisch dokumentierte Darstellung der bisherigen ALLBUS-Befragungen findet sich in www.gesis.org/dienstleistungen/daten/umfragedaten/allbus.

      5 Zudem wird auf diese Weise eine Trennlinie mitten durch die qualitativen Methoden gezogen, denn diese haben oft das Verstehen ihres Gegenstands zum Ziel und wären demnach nicht-empirisch. Diese Trennung ist unpraktikabel, wenn etwa die Daten mit dem empirischen Verfahren des narrativen Interviews erhoben und mit dem nicht-empirischen Verfahren der Hermeneutik ausgewertet wird.

      6 In einem Fall muss der Forschungsgegenstand nicht außerwissenschaftlich sein, nämlich wenn die Wissenschaft selbst zum Forschungsgegenstand wird, also in der Wissenschaftssoziologie. Die untersuchte Wissenschaftspraxis wird dann theoretisch und methodisch genauso wie ein außerwissenschaftlicher Forschungsgegenstand behandelt.

      7 Dieses Inferenzproblem ist aber nicht typisch für die Befragung, sondern betrifft ebenso die Inhaltsanalyse, bei der vom analysierten Text auf Kontexte geschlossen wird (vgl. Merten 1995), und die Beobachtung, bei der vom beobachteten Verhalten auf sinnhafte Handlungen geschlossen wird (vgl. Gehrau

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