Humanbiologie. Hynek Burda
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2.4 „Hobbit“ (Homo floresiensis)
Vielleicht die größte Sensation der Paläoanthropologie in den letzten Jahren war 2004 die Entdeckung des Miniaturmenschen in Liang Bua auf der ostindonesischen Insel Flores. Es handelt sich dabei um fast unglaublich junge Funde – „Hobbits“ lebten auf Flores bereits vor ca. 95 tya und noch bis etwa 12–18 tya, existierten also noch mehr als 10.000 Jahre nachdem der letzte Neandertaler gestorben war. Zweifellos sind sich moderne Menschen und Hobbits noch begegnet. (Die Erinnerung an das womöglich schwierige Zusammenleben mit „Hobbits“ hat vielleicht bis heute im Folklorewesen Ebu Gogo überlebt. Die Ebu Gogo waren kleine Menschen, die unbestätigten Erzählungen zufolge noch im 18.–19. Jahrhundert auf der Insel gelebt haben sollen.) Hobbits waren auffällig klein (1,1 m, 25 kg) (Abb. 2.5) und besaßen kleine Köpfe (Hirnschädelvolumen 400 cm3). Gerade die außerordentlich kleinen Gehirne nährten lange den Verdacht, dass es sich um eine krankhafte (pathologische) Mikrozephalie handelte. Und in der Tat ist dies merkwürdig, denn die meisten sekundär miniaturisierten Säugetiere haben relativ große Gehirne (eine Ausnahme sind z.B. die Flusspferde auf Madagaskar). Ein wirkliches Rätsel ist das Vorkommen von „Hobbits“ ausgerechnet auf Flores: Diese Insel ist kein Bestandteil des asiatischen Shelfs und war nie über eine Landbrücke, also trockenen Fußes, erreichbar. „Hobbits“ lebten hier in einem bizarren Ökosystem zusammen mit Zwergelefanten, Riesenratten, Komodowaranen und riesigen Marabustörchen. Flores muss vor einigen Zehntausend Jahren wahrlich ein besonderer Ort gewesen sein.
H. floresiensis wurde ursprünglich als miniaturisierte Inselform des H.erectus interpretiert, eine aus dem Gesichtspunkt der Geografie und Stratigrafie logische Hypothese, die erst kürzlich auch durch eine detaillierte Analyse der kraniofazialen Morphologie bestätigt werden konnte. Allerdings zweifeln einige Forscher die Existenz einer eigenständigen Menschenart auf Flores an. Sie postulieren, dass „Hobbits“ pathologische Abweichungen darstellen (Mikrozephalie, Laron-Syndrom, endemischer Hypothyroid-Kretinismus). Man muss aber betonen, dass es sich nicht um pathologische Individuen, sondern um eine ganze Population handeln müsste, die auf Flores mehrere Tausend Jahre lebte. Der „Krieg um den Hobbit“ wurde in der ersten Dekade unseres Jahrhunderts sehr heftig geführt. Im Verlauf der Streitereien wurde die „Pathologie-Hypothese“ ebenso häufig widerlegt wie wiederbelebt. Wie das in der Wissenschaft häufig vorkommt, konnte keine Seite vollends überzeugen. Die neueren Versuche zur phylogenetischen Analyse der Reste des „Hobbits“, mit dem Fokus diesmal nicht auf dem zweifelhaften Schädel, sondern auf den Extremitäten, deuten darauf hin, dass es sich nicht nur um eine besondere, sondern vor allem um eine außerordentlich primitive Art handeln könnte, die sich irgendwo auf der Ebene des H.habilis abgespalten hat. Für die basale Stellung des „Hobbits“ spricht eine Reihe morphologischer Merkmale, wie z.B. der robuste Unterkiefer ohne „Kinn“, die primitiven Prämolaren, die Form des Hirnschädels, der Bau der Handwurzel, die Fußform und die Körperproportionen, die alle eher den Australopitheken oder H.habilis ähneln. In diesem Fall wäre die Miniaturisierung nicht besonders dramatisch ausgefallen. Andererseits würde diese Sichtweise die Existenz einer umfassenden und bisher unbekannten Migration von primitiven afrikanischen „Menschen“ über Asien hinweg voraussetzen, für die sich (bisher) keine Spuren finden lassen (vielleicht mit Ausnahme von ca. 2 Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen aus der Fundstelle Riwat in Pakistan). Bemerkenswert ist auch, dass die menschlichen Werkzeuge auf Flores in ca. 1 mya alten Erdschichten gefunden wurden, ihre Fossilisierung also lange vor der Ankunft moderner Menschen nach Indonesien begonnen hatte.
Man kann zusammenfassen, dass H.floresiensis gegenwärtig zumeist für eine eigenständige Art gehalten wird, deren phylogenetische Stellung aber rätselhaft bleibt. Immerhin besteht die Hoffnung, dem Rätsel mit molekulargenetischen Methoden auf die Spur zu kommen, wenn es gelingt, DNA aus den relativ jungen „Hobbit“-Knochen zu gewinnen und zu analysieren.
2.5 Homo erectus im weiten Sinne
Die augenfälligste evolutionäre Änderung (Körpervergrößerung, Abb. 2.5, wahrscheinliche Rückbildung der Körperbehaarung usw.) findet sich erst bei H.erectus im weiteren Sinne und seinen Nachkommen.
2.5.1 Homo ergaster
Die Schlüsselart der „großen Menschen“ und ihr ältester Vertreter ist der ost- und südafrikanische H.ergaster (1,4–1,9 mya). Traditionell wurde er für eine alte afrikanische Form von H.erectus gehalten. Heute wird seine nahe anzestrale Beziehung zur „Sapiens-Linie“ (H.heidelbergensis und seine Nachkommen) und auch zu asiatischen Populationen von H.erectus allgemein anerkannt (Abb. 2.9). Homo ergaster war bis zu 180 cm groß, also wesentlich größer als die basalen Vertreter der Gattung Homo („Habilini“), und zeichnete sich durch „moderne“ Körperproportionen aus – im Gegensatz zu den Australopitheken konnte er auch schnell laufen. H.ergaster nutzte als erster – zumindest in späteren Zeiten – auch abgeleitete, fein bearbeitete Steinwerkzeuge (Acheuléen-Kultur) (Tab. 2.2). Es scheint, dass seine Sozialstruktur ähnlich der des modernen Menschen war (reduzierter Geschlechtsdimorphismus im Vergleich zu den „Habilinen“). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das als KNM-ER 1808 bezeichnete Skelett einer Frau, die offenbar eine normalerweise fatale Hypervitaminose A langfristig überlebt hat, was zum einen auf intensive Jagd (und Leber der Raubtiere als übliche Nahrung) hindeutet, zum anderen auf eine anfängliche „ärztliche Fürsorge“ und damit auf ein Sozialverhalten, das ein bedeutendes Maß an Kooperation und Koordination einschließt.
Abb. 2.9: Stammbaum und räumlich-zeitliche Verteilung der Urmenschen (Gattung Homo).
2.5.2 Homo georgicus
Eine sehr zweifelhafte Art ist H.georgicus (mit einem Alter von ca. 1,8 mya), die auf Funde aus der georgischen Lokalität Dmanisi zurückgeht. Es handelt sich wahrscheinlich um eine lokale Population von H.ergaster und den ersten Bewohner des westlichen Eurasiens (Box 2.5). Wichtige Merkmale des georgischen Menschen sind seine relativ geringe Körpergröße und der Gebrauch primitiver Steinwerkzeuge (Oldowankultur), ein Merkmal, das er mit „Habilinen“ und ursprünglichen Populationen von H.ergaster teilte (Tab. 2.2). Interessanterweise ähnelt das Gebiss von H.georgicus eher dem Gebiss alter afrikanischer Menschenarten; und Steinwerkzeuge aus Yunnan in Südwest-China sind nur wenig jünger. Auch dies könnte auf eine basale phylogenetische Stellung von H.georgicus und eine weitere Verbreitung hinweisen.
2.5.3 Homo erectus im engen Sinne
Diese seit Langem (seit 1891) bekannte asiatische Art lebte während eines sehr langen Zeitraums zwischen 1,8 mya bis ein paar tya im südöstlichen Asien, nämlich in Indonesien („Pithecanthropus“) und China („Sinanthropus“) (Tab. 2.1, Abb. 2.9 und 2.10). Sekundär hat sie sich auch in Westeurasien ausgebreitet und ist zurück nach Afrika (ca. 1 mya) gewandert. H.erectus ist der unmittelbare Nachkomme des afrikanischen H.ergaster. Im Unterschied zu seinem afrikanischen Vorfahren, von dem er sich 2 mya getrennt hatte, war H.erectus an der Evolution des modernen Menschen nicht unmittelbar beteiligt. Interessanterweise finden wir bei den asiatischen Populationen von H.erectus keine Acheuléen-Werkzeuge (Tab. 2.2), obwohl der afrikanische H.ergaster sie schon gebrauchte. Es kann sich entweder um den „Beweis“ der sehr frühen Abspaltung der asiatischen von der afrikanischen Linie (noch vor der Erfindung der Acheuléen-Technologie) handeln, oder um einen Hinweis auf die Nutzung anderer, weniger fossilisierbarer Materialien für die Werkzeugherstellung in Asien (Bambus?).
Abb. 2.10: Schädel von Homo erectus. Für den Schädel charakteristisch sind die flache, fliehende Stirn, die mächtigen Überaugenwülste, der verlängerte, niedrige Hirnschädel, die großen, robusten Jochbögen, das nach vorne vorspringende