Humanbiologie. Hynek Burda
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2.6.1 Homo antecessor
Eine wenig bekannte Art aus der Sierra de Atapuerca in Spanien (0,8–0,2 mya) ist der H.antecessor, der älteste fossile Mensch in Europa und wahrscheinlich der basale Angehörige der afroeuropäischen Linie, die vom H.ergaster zum modernen Mensch führt. Ungefähr aus demselben Zeitraum stammen auch einige in Ost-England (also relativ nahe an der Grenze zur borealen Klimazone) gefundene menschliche Spuren und Steinwerkzeuge. Ob ihr Hersteller H.antecessor war, ist schwer zu beurteilen, aber wir kennen heute keine andere Menschenart, die damals Europa bewohnte. (Allerdings ist Vorsicht geboten: Eine neue Datierung evolutionärer Ereignisse, die auf der Mutationsrate zwischen den nachfolgenden Generationen beruht (Kapitel 3.2), ermöglicht auch andere, unorthodoxe Interpretationen der Fossilien.)
2.6.2 Homo heidelbergensis
H.heidelbergensis ist eine heterogene Sammlung von afrikanischen und eurasischen (von Spanien bis China, vielleicht auch Westindien) Populationen aus dem Zeitraum 600–250 tya. Es handelt sich eindeutig um einen Menschen vom heutigen Typ, der sehr wahrscheinlich fähig war, artikuliert zu sprechen und über ein komplexes Symbolverhalten verfügte (Bestattung der Toten?). Aus diversen Populationen des Heidelbergmenschen entstanden offensichtlich die späteren Arten H.neanderthalensis (direkte Vorfahren vom Neandertaler werden manchmal auch als „H.steinheimensis“ bezeichnet) und H.sapiens (über afrikanische Übergangsformen „H.rhodesiensis“ oder „H.helmei“). Der mittels der Molekularuhr geschätzte Zeitpunkt der Divergenz von Neandertaler und modernem Mensch (über 500 tya) entspricht gerade jenem Zeitpunkt, als sich diverse Formen im Rahmen des Komplexes heidelbergensis-steinheimensis-rhodesiensis-helmei aufspalteten. Zu diesem heterogenen Komplex gehört wahrscheinlich auch der sogenannte „H.cepranensis“ von der Apenninen-Halbinsel/Italien (ursprüngliche Datierung 0,8–0,9 mya, nach heutigen Angaben deutlich jünger) (Box 2.7).
Box 2.7
Sima de los Huesos 2013
Zum Schluss des Jahres 2013 wurde die mitochondriale DNA-Sequenz aus einem ca. 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen aus der Fundstelle Sima de los Huesos im Atapuerca-Gebirge im Norden Spaniens publiziert. Weil es sich um Überreste der „Spezies“ Homo heidelbergensis handelt (zwar mit vielen „neandertaloiden“ Merkmalen, was aber nicht überraschend ist, denn aus den europäischen Populationen von H.heidelbergensis sind ja Neandertaler entstanden) konnte man erwarten, dass die Analyse diese Population als eine Schwestergruppe der Neandertaler oder Schwestergruppe der Neandertaler plus moderner Menschen, identifizieren würde. Weder noch: Der Mensch von Sima de los Huesos ist dem rätselhaften altaischen Denisova-Menschen nah verwandt, bzw. seine Mitochondrien sind den Denisova-Mitochondrien verwandt (was nicht das gleiche sein muss), aber die Verwandtschaft zwischen der spanischen und altaischen Population (bzw. deren Mitochondrien) scheint geringer zu sein als die verwandtschaftliche Beziehung von Neandertaler und modernem Menschen. Die Widersprüche zwischen den auf der mitochondrialen und Kern-DNA beruhenden Ergebnissen weisen auf eine Kreuzung der Denisovaner mit noch älteren Formen (ostasiatischer H.erectus?) hin. In jedem Fall zeigt sich, dass die alten menschlichen Populationen weit verbreitet und wahrscheinlich auch sehr mobil waren. (Was beunruhigt, ist die Tatsache, dass bisher jeder alte Fund, von dem es gelungen ist, DNA zu isolieren, unsere Sicht der Phylogenese des Menschen wesentlich geändert hat – was erwartet uns noch? Letztendlich befindet sich nur ein paar Hundert Meter von der Fundstelle in Sima de los Huesos entfernt die Lokalität Gran Dolina, aus der der noch ältere H.antecessor beschrieben wurde …)
2.6.3 Homo neanderthalensis
Der bekannteste fossile Verwandte des modernen Menschen bewohnte Europa, den Nahen Osten und Westasien (östlich bis zum Altai). Das Alter dieser Spezies reicht von 350 (270–440) bis 30–40 Tausend Jahre (spätere Schätzungen werden in letzter Zeit angezweifelt). Es ist also fast sicher, dass er in einigen Teilen seines Verbreitungsareals langfristig mit dem modernen Menschen koexistierte. Bei H.neandertalensis handelte es sich um eine Form, die zunächst Gebiete der gemäßigten Zone bewohnte und sich später an die kalten Bedingungen des letzten Glazials adaptierte. Neandertaler waren robuster als heutige Menschen (einschl. eines größeren Gehirnvolumens) (Abb. 2.11). Biologisch und kulturell stellen sie das Taxon dar, das dem heutigen Mensch evolutionär am nächsten steht – die Übereinstimmungen überwiegen deutlich die Unterschiede (Box 2.8). Häufige, umfangreiche und geheilte Verletzungen weisen darauf hin, dass sich die Jagdtechnik von Neandertalern von der des modernen Menschen unterschied. Sie beruhte eher auf einem Kontaktkampf mit der Beute, während moderne Menschen auf das Erfinden und Weiterentwickeln von Fernwaffen (Bögen und Pfeile, Wurfspeere) hinarbeiteten.
Abb. 2.11: Schädel von Homo neanderthalensis mit typischen Merkmalen.
Box 2.8
Wie sahen unsere Vorfahren aus?
Wenn wir uns die Rekonstruktionen von Neandertalern in der populärwissenschaftlichen Literatur anschauen, registrieren wir eine bemerkenswerte „Evolution“ dieser Art – von menschenaffenartigen Bestien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu der heutigen Sicht auf Neandertaler als Menschen, die wir in der U-Bahn wahrscheinlich kaum bemerken würden. Es geht nicht darum, dass die neue Sicht bestimmt genauer ist, aber darum, dass alle Rekonstruktionen auf visuellen und emotional bedeutenden Merkmalen beruhen, über die wir bei ausgestorbenen Arten nichts wissen. Australopithecinen werden heute oft dargestellt mit menschlichen Augen mit weißer Sklera und markant gefärbten Regenbogenhäuten, nicht mit den schimpansenartigen Augen. Mit einigen wenigen Pinselzügen (und in Photoshop noch einfacher) kann man den Australopithecus vermenschlichen oder entmenschlichen, beliebig nach Wunsch.
Alles weist darauf hin, dass Neandertaler eine artikulierte Sprache besaßen: die Anatomie des Stimmapparats und des hypoglossalen und spinalen Kanals (Kapitel 7.9.4), außerdem der Besitz des menschlichen Typs des „Sprachgens“ FOX2P (siehe auch Kapitel 7.9.3). Für Neandertaler ist die Moustérien-Werkzeugkultur (Tab. 2.2, Abb. 2.7) typisch, die kontrollierte Nutzung des Feuers und der Bau komplizierter Behausungen. Die Existenz von Ritualen (Beerdigungen) oder von künstlerischen Produkten (Schmuck, Musikinstrumente) kann als sehr wahrscheinlich angenommen werden.
Neandertaler wiesen wahrscheinlich ein schnelles postnatales Wachstum auf, sie hatten nur eine sehr kurze präpubertale Kindheit und ihre Ontogenese war offensichtlich für die Mutter energetisch anspruchsvoller als beim modernen Menschen, worauf auch längere Intervalle zwischen den Geburten hindeuten. Trotz des schnelleren Wachstums erlangten sie ihre Geschlechtsreife später. Von den verfügbaren genetischen Daten kann man ableiten, dass Neandertaler (ähnlich wie moderne Menschen) patrilokal waren, aber langfristig in kleinen Populationen mit niedriger genetischer Diversität lebten. Die Molekulardaten weisen darauf hin, dass die Neandertaler im europäischen Teil des Verbreitungsareals lange vor der Ankunft des modernen Menschen ausstarben. Mittel- und Westeuropa wurden dann vom Osten rekolonisiert und so entstand die Neandertaler-Population, welche – in der Zeit, wenn sie selbst schon auf die Extinktion zusteuerte – unseren unmittelbaren Vorfahren begegnete.
2.6.3 Denisova-Mensch
Im Jahre 2010 wurde überraschenderweise eine neue Menschenart in der Denisova-Peschera (Denis-Höhle) im Altaigebirge (wo nicht lange davor Neandertaler lebten) entdeckt. Aus einem winzigen Fragment des Fingergliedknochens (ca. 40.000 Jahre alt) wurden die mitochondriale DNA und später auch das Kerngenom isoliert. Sie zeigen, dass es sich um eine eigenständige Linie handelt, wahrscheinlich eine genetisch deutlich unterschiedliche Schwesterlinie des Neandertalers. Auch die ersten morphologischen Studien der Denisova-Zähne zeigen, dass es sich um eine morphologisch eigenständige und ziemlich archaische Gruppe handeln muss.
2.6.4 Homo sapiens im engen Sinne
Der moderne Mensch ist der nächste Verwandte des