Die Schamanin. Hans-Peter Vogt
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Solveig wohnt unmittelbar neben der Klinik ihrer Eltern in einem dreistöckigen kleinen Haus, das wie alle Häuser der Indios einmal erdbebenfest gebaut worden war und einen kleinen Garten hat. Sie ist zu dreivierteln indianischer Herkunft und zu einem Viertel weiß, aber sie hat in ihrer Kindheit gelernt, sich als eine Indio zu fühlen. Sie trug in ihren Kinderjahren indianische Kleidung und sie spricht die Sprachen der Aymara (Bolivien) und der Quechua (Peru), die sich in einigen Dingen unterscheiden.
Als sie noch sehr klein war, wurde sie von Mama stets in diesem Tuch herumgetragen, mit dem indianische Mütter ihre Babys am Körper tragen. Sie nahm dann unmittelbar an den Behandlungen teil, die ihre Mutter da mit ihren Patienten hatte. Sie wuchs in diese Klinik hinein. Es gab zwar ein Hausmädchen und ein Kindermädchen, aber auch ihre größeren Geschwister waren oft bei der Mutter in der Klinik. Bei den Indianern ist die Familie Teil des Lebens und des Arbeitens, und so bestand von Anfang an ein sehr enger und natürlicher Kontakt zu den Geschwistern, zu der Arbeit der Eltern und auch zu all den Patienten dieser Klinik.
Gewiss, es gab Arbeiten, da wurde Solveig nicht mit hingenommen, etwa zu Untraschalluntersuchungen oder zu Rönt-genaufnahmen, und auch nicht zu Operationen, wo es um klinische Sterilität geht, aber es gibt etwas Besonderes, und das kam von Solveigs Mutter Clara.
Clara hatte ihre geheimen Kräfte von Großvater Leon geerbt. Sie ist eine Heilerin, die in die Körper und die Gehirne fremder Menschen kriechen kann, um sich dort umzuschauen, und um dort heilende Prozesse zu stimulieren, und zu solchen Ausflügen nahm Clara ihre Kinder schon rechtzeitig mit. Die Kinder wuchsen praktisch in diese Kraft hinein, die man als Außenstehender meist als „heilende Hände“ bezeichnet.
Sie wurden aber auch Zeuge, wenn Mama allerlei Mixturen anwendete, die aus dem Urwald des Amazonas stammen. Manchmal springt Clara dorthin, um solche Heilmittel zu suchen, und sie nimmt dann meist auch ihre Kinder mit. Manchmal werden solche Heilmittel auch von Onkel Nakoma zur Verfügung gestellt, der dort oben auf dem Hochland sein Gestüt hat, und der auch als ein Heilkundiger gilt (auch wenn er diese Fähigkeit nur an Tieren ausübt). Er und seine Frau Mercedes besitzen dort oben neben ihrem Gestüt auch eine Tierpraxis, und die Kinder von Nakoma und Sofia (die schon groß waren, als Solveig geboren wurde), die assistieren ihren Eltern.
So wurden die vier Kinder von Clara bereits frühzeitig in all diesen Heilmitteln unterrichtet. Es gibt da Blüten, Pulver, Baumrinden, Wurzeln, Beeren, Tees, oder Extrakte von Tieren. Es gibt da zum Beispiel eine Kröte, die mehr als 20 cm groß werden kann. Sie erzeugt ein Sekret, das wie ein schaumiger eitriger Schleim aussieht, und das man auf stark entzündete offene Wunden streicht. Die Entzündungen gehen innerhalb weniger Stunden zurück und es bildet sich ein dicker Schorf. Die Wunde eitert nicht und das Fieber geht schnell zurück. Es ist ein Mittel, viel wirksamer als eine Tetanusspritze.
4.
Als Solveig noch klein war, lernte sie all diese Dinge von ihrer Mutter, von Onkel Nakoma, und auch von ihren größeren Geschwistern. Sie nahm dieses Wissen in sich auf, wie die Muttermilch in ihrer Babyphase.
Solveigs Mutter Clara kann bei vielen Leiden helfen, wo es sonst keine Hilfe gibt, und das hatte sich schon lange vor der Geburt Solveigs bis in die Nachbarländer herumgesprochen.
Was Solveig damals noch nicht wusste, das war, dass ihre Mutter den Indios in dieser Stadt und in weiter Umgebung als Gottesgeschenk gilt. Clara und Raoul waren Indios wie sie, und sie sorgen für ihre Quechua und Aymara Indianer. Es gibt sogar eine Krankenkasse, die den Indios in Peru eine kostenlose Behandlung ermöglicht. Solveigs Großvater Leon hatte das einmal eingeführt.
5.
Solveig ist das jüngste und letzte Kind von Clara und Raoul, und als Nesthäkchen genießt Solveig einerseits eine besondere Fürsorge, andererseits ist sie von Aufgaben freigestellt, die ihre größeren Geschwister haben. Die kleine Solveig schwebt in ihren jungen Jahren sozusagen in einem freien und sorgenfreien Raum.
Nun, zumindest, was den Schutz der Familie betrifft. Natürlich ist Solveig ein Kind ihrer Zeit, und sie ist – natürlich – all den klimatischen Veränderungen ausgesetzt, wie alle anderen Kinder ihrer Zeit. Allerdings ist Solveig 2040 geboren. Das ist eine Zeit, in der das Maunder Minimum dem Planeten Erde noch einen gewissen Schutz gewährt. Solveig ist also ein Kind der relativ gemäßigten Übergangszeit in die tropisch-klimatischen Zonen, die sich dann später entwickeln sollten.
Weil es in ihrer Familie üblich ist, die gesamte indianische Siedlung als ihre „Familie“ zu betrachten, wird Solveig schon früh zu Hausbesuchen mitgenommen, und sie lernt schon frühzeitig andere Familien und Kinder kennen. Spätestens seit sie in den Kindergarten geht, der nur zwei Straßen weiter liegt, beginnt Solveig regelrecht aufzublühen.
Nicht nur das Zentrum der Quechua und der Aymara ist ihr Zuhause, auch die vielen Häuser der Indios der Umgebung werden zu Solveigs zweitem Zuhause.
Solveig geht mit anderen Kindern. Sie spielt mit ihnen, sie wendet an, was sie von Mama bereits gelernt hat. Sie kann in fremde Körper hineinkriechen, und sie kann Stimmungen aufspüren und mit leichter Hand steuern. Es dauert nicht lange, da wird Solveig als kleiner Engel angesehen, der gute Stimmung verbreitet, Konflikte in sich zusammenfallen lässt, der Krankheiten aufspürt und der (anfangs noch mit Hilfe ihrer Mutter oder Geschwister) Heilungsprozesse stimulieren kann.
Solveig hat keine Scham, mit den anderen Familien zusammen Kartoffeln zu schneiden, Bohnen zu schnippeln, das Schiffchen beim Weben zu führen, oder bei diesen Gastfamilien zu schlafen, oft mit zwei anderen Kindern in einem Bett. Sie singt viel, sie ist fröhlich und unbeschwert. Mama kann sich über ihre Energieströme jederzeit drahtlos mit Solveig in Verbindung setzen und weiß so immer, wo Solveig gerade ist, wenn sie einmal nicht nach Hause kommt.
Manchmal schickt sie einen der Geschwister oder das Kindermädchen, um Solveig nach Hause zu holen, manchmal wird Solveig von einem Mitglied der Gastfamilie nach Hause gebracht, manchmal meldet sich Solveig einfach zu Hause ab und verbringt mal zwei Nächte in der einen, dann in der anderen Familie.
Clara weiß stets, wo sich Solveig gerade aufhält, und sie lässt Solveig diese Freiheit der Entscheidung zunehmend öfter. Auch Clara hatte als kleines Kind diese Freiheit einer langen Leine genossen. Es ist das Markenzeichen ihrer Familie.
6.
Solveig hat eine etwas ältere Cousine, mit dem Namen Clarissa (die Tochter ihrer Tante Chénoa), und die ist genauso neugierig und unternehmungslustig wie Solveig. Die beiden sind richtig dick befreundet, und sie machen sich oft einen Spaß daraus, die ererbten Kräfte gemeinsam anzuwenden. Das ist lustig und sie spüren dann stets, wie sich ihre Kraft durch die gemeinsame Anstrengung und Konzentration potenziert. Dieser Quantensprung an Kraftzugewinn ist ein tiefes Erlebnis.
Clarissa ist Tante Chénoas ältestes eigenes Kind, und weil Tante Chénoa innerhalb von Solveigs Familienclan eine führende Rolle hat, erzieht Chénoa auch ihre Tochter Clarissa in dieser Rolle.
Es gibt also einen großen Unterschied zwischen der Aufgabe von Clarissa als Tochter der “Chefin” des süd-und mittelamerikanischen Familienclans und der freien Ungebundenheit von Solveig als Nesthäckchen.
Tante Chénoa hatte den Bürgermeister der kleinen Stadt geheiratet, und der hatte schon fünf Kinder von seiner verstorbenen Frau. Weil aber Clarissa von diesen sechs Kindern die einzige ist, die über die Kraft von Solveigs Familie verfügt, hat sie innerhalb dieser Familie eine besondere Aufgabe, auch wenn sie die Zweitjüngste der Geschwister ist. Clarissa hat schon früh gelernt, Verantwortung zu tragen und Fürsorge