Die Schamanin. Hans-Peter Vogt
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Die Beziehung zwischen Solveig und Clarissa ist vielleicht deshalb auch so gut, weil sie sich gegenseitig inspirieren. Die verantwortungsbewusste Clarissa und die ungebundene Solveig. Sie machen daraus ein Spiel, und Solveig kann vieles völlig ungebunden in eigener Verantwortung weiterführen, während Clarissa schon wieder in irgendwelche Aufgaben der Familie eingebunden wird.
Für Solveig ist dieses Erleben der Freiheit der vielleicht entscheidende Impuls in ihrer Kindheit.
Tante Chénoa bekommt noch andere eigene Kinder, die für Solveig alle wichtig werden, aber die Freundschaft zu Clarissa, die ist für Solveig schon etwas Fundamentales und Besonderes.
7.
Als Solveig größer wird, wird auch ihr Radius größer.
Sie wird eingeschult, und sie wächst immer mehr in dieses Wissen hinein, Teil dieser gigantischen Ausgrabung zu sein. Dabei kommt ihr zugute, dass ihre Großmutter Mila die Leiterin dieser Ausgrabung ist. Es kommt ihr zugute, dass ihre Tante Apanache und ihr Onkel „Bübchen“ das große Hotel leiten, das auch diese Kulturhalle betreibt, in der über das Jahr verteilt hunderte von guten Gruppen auftreten, mal im Bereich klassischer Musik, mal im Bereich Tanz, Gospel, Rockmusik, Pantomime oder Zauberei. Solveig hat freien Zutritt zu solchen Aufführungen, die sie oft mit ihrer Freundin Clarissa besucht, und sie kann auch jederzeit in diesem Hotel sein, mal als Zuhörerin, mal aus Aushilfe in der Küche, oder bei den Zimmermädchen. Sie hat längst gelernt, gut zuzuhören, und in die Köpfe ihrer Mitmenschen zu kriechen, um Stimmungen zu erkennen, und um offene und ehrliche Gespräche zu stimulieren.
Sie besucht auch ihren Onkel Nakoma und seine Kinder immer öfter, dort oben auf der Hochebene. Ihr Radius wird einfach größer. Manchmal sitzt sie mit Clarissa im Zentrum ihres Viertels. Es gibt da Kindstaufen, Hochzeiten und Geburtstagsfeiern, wo sie gern gesehen sind. Sie singen und tanzen. Manchmal gehen sie hinüber in die ehemalige Königsstadt, wo immer interessante Events, Vorträge und Führungen veranstaltet werden.
Tante Chénoa, die hat ja eine besondere Rolle innerhalb ihres indianischen Viertels. Sie hat die alten indianischen Riten wiederbelebt. Sie wird oft befragt, bevor sich zwei Menschen das Ehegelübde geben, und sie gilt den Indios als ihre Hohepriesterin.
Peru ist ja ein katholisches Land, und Solveig war einmal katholisch getauft worden. In der Stadt finden übers Jahr verteilt mehrere Prozessionen statt. Weil das aber früher stets ein großer trauriger und jammernder Zug war, war das Interesse der Indios an diesen Prozessionen irgendwann nahezu erloschen, in dem Maße, wo sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude wiedergewannen, die durch ihre Stellung als Teil der Ausgrabung und als Teil einer über 8.000 Jahre alten Kultur begründet war. Wie anders als bei den kirchlichen Prozessionen, ist das bei den rein indianischen Festen. Dort wird gelacht, getanzt und Musik gemacht. Das sind lebensfrohe Feste für alle. Selbst die Beerdigungen sind zwar zu Beginn still und in sich gekehrt, weil man mit Würde Abschied nimmt, aber sie werden dann laut und fröhlich. Chénoa hatte stets gesagt, „Während dieser Mensch zu Erde wird, wächst aus dieser fruchtbaren Erde ein neues Leben. Das ist ein Grund zur Freude. Es ist ein ewiger Kreislauf, der uns am Leben erhält. Wir vergessen diesen Menschen nicht. Wir halten die Erinnerung an ihn wach, den er gestattet dieses neue Leben. Lernen wir aus seiner Erfahrung.“
Bei den Indianern gibt es seit Jahren einen neuen alten Kult um die Wiedergeburt, und deshalb ist der Tod eines Menschen Teil eines Kreislaufs, von dem die christlich begründete Trauer sich völlig unterscheidet. Unter der Führung von Solveigs Tante Chénoa hatte sich die indianische Gemeinde in einem langen, zähen und unblutigen Kampf aus der früheren Abhängigkeit und Knechtschaft befreit und ihre eigene Kultur wiedergefunden. Nicht nur im Tal von Ciudad del Sol, sondern in ganz Peru und Bolivien. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die kleine Stadt Ciudad del Sol die geistige Hauptstadt der indianischen Bevölkerung dieser beiden südamerikanischen Länder geworden war, auch wenn die politischen Zentren dieser beiden Staaten in den Millionenstädten Lima und La Paz liegen. Die Hauptstadt der Region, zu der Ciudad del Sol gehörte, die liegt wiederum in der Luftlinie etwa 200 Km von Ciudad del Sol entfernt. Die 350.000 Einwohnerstadt Cusco hat ihre eigene Bedeutung als Verwaltungszentrum und als Weltkulturerbe des früheren Inkareiches.
Nun. Die kleine Stadt Ciudad del Sol hat ihre Bedeutung durch die Entdeckung dieser gewaltigen Königsstadt der Peruche-Krieger erlangt, und durch den Clan von Solveigs Familie war sie zum geistigen Zentrum der südamerikanischen Indianer geworden. Solveig ist - als Teil dieses Familienclans - dazu bestimmt, spätere Führungsrollen zu übernehmen. Solveig wird durch ihre Eltern wie ein Freigeist erzogen, aber sie nimmt alle diese unterschiedlichen Ereignisse mit wachen Augen auf. Es gibt indianische Familien, wo gebetet und gefastet wird, aber durch den Einfluss von Tante Chénoa hatte sich das bereits mit den alten indianischen Riten gemischt, die einmal ganz von dem Sonnenkult geprägt worden waren, der damals das Leben in der heiligen Stadt der Könige bestimmt hatte.
Solveig nimmt an solchen Gebeten manchmal teil, aber sie ist davon nicht sehr beeindruckt. Die Hoffnung, die sich im christlichen Glauben manifestiert, die kann einem Menschen Kraft geben, aber ist auf nichts anderes gebaut als eben nur Hoffnung. Die Kräfte, die Solveig von Mama lernt, die sind hingegen konkret und wirkungsvoll, und auch die Indios ihres Viertels hatten längst verinnerlicht, dass die Kräfte dieses Familienclans eine reale Kraft sind, mit der man rechnen kann, und auf die man sich verlassen kann. Nicht umsonst ist Solveigs Tante Chénoa den Indianern wie eine Hohepriesterin erschienen. Sie gilt den Indianern als ihr geistiges Oberhaupt, deren Führung man sich bereitwillig unterwirft, weil sie Kraft und Freiheit vermittelt. Ganz anders als bei den herkömmlichen Patriarchen der christlichen Glaubensrichtung, die stets auf Unfreiheit und Knechtschaft abzielte, bis hin zur Versklavung und zur Zwangssterilisation. So etwas gab es in Peru und Bolivien schon nicht mehr, als Solveig geboren wurde. Solveigs Großvater Leon und ihre Tante Chénoa hatten dieses Verbot politisch durchgesetzt, und seit durch den Einfluss von Tante Chénoa ein Indianer auf dem Posten des Ministerpräsidenten sitzt, waren die Rechte der indianischen Mehrheit in Peru nicht mehr von denen der weißen Bevölkerung zu unterscheiden, zumindest nicht auf dem Papier.
Die indianische Bevölkerung zelebriert ihren neuen alten Glauben inzwischen. Es gibt im Zentrum der Indianer sogar einen kleinen Raum, der ausschließlich für den Sonnenkult gedacht ist, und von dem nicht einmal der katholische Priester etwas weiß. Die Indianer hatten diesen Raum einmal heimlich eingerichtet, um zu Chénoa zu beten und ihr zu danken, und selbst Chénoa hatte anfangs nichts davon gewusst.
Tante Chénoa hatte nun einmal alte Riten wieder belebt, die heute etwa bei indianischen Hochzeiten oder Beerdigungen wieder durchgeführt werden. Sie war es, die den Indios ihre kollektive Identität wiedergegeben hatte. Sie war es, die den Indianern in diesem Land wieder zu Rechten verholfen hatte. Sie war es, die erreicht hatte, dass die Indios in diesem Land endlich freien Zugang zu Bildung, Universitäten und zu allen Berufen haben. Es gibt inzwischen indianische Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler, Kaufleute, Piloten oder Provinzgouverneure, die hoch angesehen sind, aber dieser Prozess war noch nicht abgeschlossen, als Solveig noch klein war. Es war Tante Chénoa, die in diesem heimlichen Raum heimlich verehrt wurde, wie eine Göttin. Die Indianer wissen das. Die Weißen nicht. Chénoa gilt den Indianern Süd-und Mittelamerikas als ihre heimliche Königin, die sie beschützt und bewacht, aber darüber sprechen sie mit den Weißen nicht.
Die alten Gebräuche sind Teil eines kollektiven geheimen indianischen Wissens, das von indianischen Schamanen über Jahrhunderte bewahrt worden war, längst bevor Solveigs Großvater Leon die politische Bühne erstmals betreten hatte. In der Familie von Solveigs Großmutter Mila, da gab es dieses Denken, denn Großmutter Mila stammt aus einer Sippe, die im Nachbarstaat Bolivien 200 Jahre lang an Aufständen gegen die weiße Oberschicht teilgenommen hatte. Heute