Die Schamanin. Hans-Peter Vogt
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Chénoa ist eine weise Frau, die das Potential ihrer Nichte schon früh erkannt hatte, und sie ermuntert Solveig auf diesem Weg fortzufahren. Wenn es gelingen würde, die Gedanken der Menschen auf breiter Basis nachhaltig zu beeinflussen, dann würde man viel mehr erreichen, als mit Gewalt. Ein solcher Weg braucht viel Zeit. Chénoa weiß das. Sie hatte diesen gewaltlosen Weg selbst beschritten, aber manchmal hatte sie auch schon zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Dann war Blut geflossen.
12.
Solveig hat eine zwei Jahre jüngere Cousine mit dem Namen Elvira, die sich in Berlin offen gegen die Mafia gestellt hat. Auch Elvira hat aber einen sehr unkonventionellen Weg gewählt. Statt gegen die Mafia einen offenen Krieg zu führen, hat sie die Zusammenarbeit mit der Mafia gesucht, um sie besser kontrollieren zu können. Elviras erstes Ziel ist es, innerhalb von Berlin Ordnung zu schaffen. All die kleinen Ganoven und jugendlichen Gangs kann sie offen bekämpfen, die großen Mafiafamilien (die im geheimen wirken) müssen durch eine besondere Strategie eingefangen werden. Dort geht es um viel Geld und Macht. Ein Machtvakuum hätte die Stadt nur in ein neues Chaos gestürzt. So wird Elvira die heimliche Friedensrichterin in Berlin. Sie vermittelt zwischen den Mafiafamilien. Sie sorgt dafür, dass Berlin drogenfrei wird. Nun ja. Drogen werden zwar weiter konsumiert, dagegen kann sie wenig machen, aber sie untersagt den Verkauf von Drogen mit drastischen Maßnahmen, und die Mafiafamilien fügen sich, wie durch ein Wunder. Sie sorgt für eine Aufteilung der Märkte. Alles das geschieht unsichtbar für die Behörden, denn auch Elvira praktiziert diese Heimlichkeit und Unsichtbarkeit, die es in den Mafiafamilien gibt. Nur ein kleiner Teil ist sichtbar, das, was man öffentlich sehen darf. Elvira wird die heimliche „Königin“ von Berlin.
Das ist allerdings auch ein Weg auf schmalem Grat. Sinnbildlich mit der Mafia aus einem Teller zu essen, das macht mitschuldig, und Elvira hat für erbrachte Dienstleistungen von den Mafiabossen sogar eine Bezahlung gefordert. Sie musste das tun, um ihr Gesicht zu wahren, und als geheime Friedensrichterin anerkannt zu werden, aber Elviras Familie profitierte seit einigen Jahren finanziell indirekt von den Machenschaften der Mafia. Das ist in der Familie höchst umstritten. Opa Leon und Oma Katharina (in Berlin) hatten geseufzt und sie hatten gefordert, diese Gratwanderung genau, sehr genau zu beobachten, und immer wieder zu hinterfragen und zu kontrollieren.
Elviras Weg ist in der Familie nicht unumstritten. Der Tanz mit dem Teufel macht dich leicht zu seinem Komplizen. Nicht nur zum Mitwisser, sondern auch zum Mittäter. Manchmal schleichend, dafür aber umso effektiver und nachhaltiger, weil in solchen Fällen die natürlichen Abwehrantennen versagen, in kleinen und in großen Dingen, aber Solveigs Cousine Elvira hat Partei ergriffen. Sie mischt sich ein. Sie übernimmt Führungspositionen und sie beginnt zu steuern.
Es muss in dieser Zeit klargestellt werden, dass die Familie sich immer wieder in den Traditionen übt, die in der Familie als „Demut“ bezeichnet werden. Diese Kräfte, die sie als Familie haben, die dürfen nicht missbraucht werden. Die Achtung für Mensch und Natur ist oberstes Gesetz. Man darf nicht zum Täter werden.
In dieser Zeit bittet Chénoa ihre Nichte Solveig, das Gewissen der Familie zu überwachen, oder anders gesagt, die Einhaltung der ethischen Grundsätze zu garantieren. Niemand kann so gut in die Köpfe hineinkriechen wie Solveig, und Solveig wird die Beraterin ihrer Cousine Elvira, mit der sie von diesem Zeitpunkt an in ständigem Kontakt steht.
Auch Solveigs gewaltfreier Weg ist nicht unumstritten. Sie mischt sich nicht ein, obwohl sie von vielen Ungerechtigkeiten und Rechtsmissbräuchen weiß. Sie versucht stets langsam und schleichend Einfluss zu gewinnen. Sie sieht genau genommen zu, wenn Ungerechtigkeiten passieren, ohne sie zu verhindern. Was also ist der bessere Weg? Elviras oder Solveigs Lösung?
Ihre Tante Chénoa ist sich klar über diesen Konflikt des Gewissens, wie sie das nennt, aber auch Chénoa weiß nicht immer Rat. Das sind Grundsatzentscheidungen, die eine Einzelfallprüfung brauchen, und dich immer wieder in Gewissenskonflikte bringen können, wenn du deiner Umwelt nicht gleichgültig gegenüberstehst.
Als Mensch lädst du ständig Schuld auf dich, ob du nun etwas tust, oder nur zusiehst, ohne dich einzumischen. Man könnte sagen, „was soll’s, wenn ich immer Schuld auf mich lade, dann ist es doch egal, was ich tue. Dann kann ich nur an mich denken und mir den bequemsten und gewinnbringendsten Weg suchen.“ So denkt Soveigs Familie nicht. Schon Opa Leon hatte aktiv ins Geschehen eingegriffen und die Familie hat diese Vision, der man in vollem Bewusstsein verpflichtet ist.
Sowohl Tante Chénoa, wie auch Elvira und Solveig wissen, dass manchmal rigorose Maßnahmen beschritten werden müssen, um Schlimmeres zu verhindern.
Um es deutlich zu sagen. Solveigs Weg ist nicht besser als der von Elvira, aber Solveig ist der nachdenkliche und eher philosophische Charakter. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ihre neue Rolle in der Familie als eine Art Supervisorin.
13.
Solveig besucht inzwischen alle die Familienmitglieder, die es da gibt. Es sind mittlerweile viele.
Die Kinder von Onkel Nakoma haben inzwischen eigene Kinder. Onkel Fred und Onkel Paco haben eine ganze Reihe Kinder. Ihr großer Bruder Ramon und Chénoas Sohn Ramon haben Kinder. Überall wachsen neue „Keimzellen“, teilweise sehr weit auseinander verstreut.
Solveig hört zu, sie betreut, sie koordiniert und sie übernimmt die Schulung der Kinder. Es gibt ja diese Treffen der Kids schon länger, um sich in den Kräften der Familie zu üben. Solveig perfektioniert diese Treffen jetzt, wie eine richtige „Ferienschule“, und sie fordert von den Kindern Demut ein.
Solveig macht das nicht alleine. Alle die wichtigen Mitglieder der Familie stehen an ihrer Seite. Die Familientreffen sind in ihren Beschlüssen eindeutig. Macht ist legitim, Machtmißbrauch nicht.
Solveig leitet in der „Schule der Kinder“ an, sie delegiert, sie übergibt Aufgaben an jugendliche Mitglieder und Kinder der Familie, sie beobachtet, koordiniert und schreitet ein, wenn es notwendig erscheint. Solveig kann sich in die Köpfe summen, wie keine Zweite. Sie übertrifft darin inzwischen sogar ihre Tante Chénoa, wenn auch nur im Rahmen kurzer Distanzen.
Innerhalb von fünf Jahren wird Solveig so etwas, wie „das Gewissen“ der Familie. Sie achtet auf die Einhaltung der Regeln. Sie lässt den Kindern der Familie alle erdenklichen Freiheiten, aber es gibt Dinge, die schlussendlich tabu sind. Der Mensch und die Natur sind heilig. Das ist ein ehernes Gesetz, und Solveig trainiert sich jetzt in der Steuerung von Gedanken über große Distanzen hinweg. Sie nimmt faktisch einen Geruch auf, wie ein Wolf, der seine Beute schon aus mehreren Kilometern riecht, oder wie ein Eisbär, der im Winter der arktischen Kälte sogar die Fähigkeit hat, die Robben unter der Eisschicht zu riechen. Sie beginnt solche Kontakte systematisch über lange Distanzen hinweg zu pflegen.
Solveig ist zum Hüter der Schule geworden, zum Lehrer der Kinder. Sie kann inzwischen problemlos zu jedem der Kinder über ihre Energieströme Kontakt aufnehmen, egal, wo sie gerade sind. Sie kann sie rufen. Sie kann mit ihnen drahtlos kommunizieren (ganz ohne Telefon) und sie kann ihre Gedanken lesen. Solveig ist ein sanfter Riese.
So wird Solveig wie ein Metronom, das den Takt und die Schnelligkeit des Takts vorgibt. Es bestimmt den Mittelpunkt des Pendels und den Grad des Ausschlags. Chénoa nennt Solveigs Aufgabe inzwischen am liebsten den „Wächter unseres Gewissens“. Solveig stellt eigenverantwortlich die Leitfäden auf und sie kontrolliert deren Einhaltung.
Schon einmal hatte die Familie schmerzlich erfahren, dass eines der Familienmitglieder all seine Kraft verlor, weil er die Spielregeln aufs Gröbste missachtet hatte. Diese Kräfte sind nicht da, um persönlichen Vorteil daraus zu ziehen.