Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

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Die Schamanin - Hans-Peter Vogt

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der Familie ist es üblich, die Nachkommen in diesen überlieferten Traditionen der Nomaden zu unterrichten, auch wenn viele Mitglieder der Familie erfolgreiche Bänker, Anwälte, Ärzte oder Unternehmer geworden sind, die sich heute auch teure Autos, Flugzeuge und Yachten leisten, die in Luxussporthäfen im schwarzen Meer dümpeln, zu denen nur Wenige im Land Zugang haben.

      Es ist eine eigentümliche Familie. Tradition vermischt sich mit Moderne, es gibt in der Familie IT Spezialisten, Ingenieure, Anwälte, Richter, hohe Staatsbeamte, Immobilienmakler und Wissenschaftler, ähnlich wie in Solveigs Familie auch. Ein Großteil der Einnahmen stammt aber tatsächlich aus illegalen Geschäften, und die Familie beherrscht ihn genial, diesen Spagat zwischen legalen und illegalen Geschäften. Es ist einfach, diese schwarzen Gelder zu waschen und in legales Geld zu verwandeln. Man muss das jetzt nicht im Detail ausführen. Solveig ist ganz im Groben über die Geschäfte informiert, weil sie von Chénoa und Elvira eingewiesen worden war, und weil sie sich bereits in einige der Köpfe der Mitglieder dieser Organisation gesummt hatte, aber sie mischt sich da nicht ein, getreu ihrem Motto der Unparteiigkeit.

      Solveig ist unterwegs, um sich verschiedene Pferde und die kostbaren Greifvögel der Sippe anzusehen. Die Zucht und die Ausbildung von Adlern und Falken hat hier eine lange Tradition und diese Zucht ist berühmt. Reiche Araber zahlen dieser Familie für einen gut ausgebildeten Adler oder Falken problemlos zwischen 100.000 und 150.000 Euro. Aber auch im Land selbst pflegt man diesen Sport. Pferde gehören traditionell zum Image, auch wenn heute jeder reiche Kasache mindestens eine Luxuslimousine und mehrere teure Geländewagen und italienische Rennwagen in der Garage stehen hat. Stutenmilch gilt auch ihnen als eine Art Fitnesstrunk.

      Der Termin war schon seit längerem ausgemacht.

      Als sie am Flughafen ankommt, wird sie gebeten, sofort in einen bereitstehenden Helikopter umzusteigen. Die Familie sei sehr in Sorge, es sei eilig, und vielleicht könne Solveig helfen.

      Diesmal geht es der Familie nicht um Pferde oder Greifvögel.

      Eines der Kinder der Sippe war beim Reiten unglücklich gestürzt. Es war von vielen Pferdehufen getroffen worden. Es gab Brüche und innere Verletzungen. Das Kind sei auf die Intensivstation des Krankenhauses gebracht worden, aber es läge seit fünf Wochen im Koma. Die Klinik weiß keinen Rat mehr, die Ärzte in der eigenen Familie fühlen sich hilflos, und so hatte die Familie das Kind in einem lebensgefährlichen Transport „nach Hause“ geholt, statt es sinnlos in diesem Krankenhaus liegen zu lassen.

      Es gibt einen eigenen Trakt, nur für das Kind, mit Ärzten, Pflegern, Krankenschwestern, einem Koch, und Helfern, die sofort springen, wenn sie gerufen werden.

      Der Junge liegt unter einem Sauerstoffzelt, bleich und weggetreten. Er wird künstlich ernährt und er wird von Zeit zu Zeit künstlich beatmet, nur um sicherzugehen. Man lässt nichts unversucht. Die äußeren Wunden waren behandelt worden. Es hatte Blutgerinsel im Kopf gegeben, aber man hatte sich nicht getraut, das zu operieren, aus Angst, das Kind dann sofort zu verlieren. Die Blutgerinsel liegen wirklich an einer sehr sensiblen Stelle. Man hatte auch Ärzte aus dem Ausland konsultiert, aber die hatten abgewunken, trotz der königlichen Honorare, die man ihnen bot.

      Wenn sie den Tod des Kindes verursachen würden, dann müssten sie um ihr Leben fürchten. Zumindest dachten sich das diese Kapazitäten, nachdem sie sich über die Familie kundig gemacht hatten.

      Solveig kennt die Familie schon seit einigen Jahren. Sie sieht sich das Kind an, sie lässt sich die Röntgenbilder und Computertomografien zeigen, dann bittet sie um einen abgelegenen Raum. Sie springt sofort nach Südamerika zurück, und nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Lara auf, die in Sachen Naturmedizin eine Ausnahmestellung innerhalb der Familie genießt, mehr noch als ihr genialer Vater Nakoma, Solveigs Onkel. Solveig bittet sie darum, einige ihrer pflanzlichen Sammlungen zur Verfügung zu stellen. Dann springt sie, bewaffnet mit einem großen Rucksack, zurück nach Kasachstan.

      Sie sucht den Clanführer auf und bittet um ein Gespräch unter vier Augen.

      Sie will wissen, ob er soviel Vertrauen zu Solveig hätte, dass er ihr das Kind für eine Weile anvertrauen würde, ohne Fragen zu stellen. Kein Sauerstoffzelt, aber einige Begleiter, Pferde, Jurten und ein Ausritt für mehrere Tage oder Wochen.

      Der Clanführer sieht Solveig lange an. Er kennt ihre unvergleichlichen Fähigkeiten mit Tieren, deshalb hatte er sie schließlich hierher geholt, und er hatte auch viel über Solveigs Heilkünste an Menschen gehört. Solveig gilt als Kapazität, obwohl sie noch sehr jung ist.

      Er schließt die Augen und atmet lange tief ein- und aus. Dann sieht er Solveig durchdringend an und beschließt, „du sollst alles haben, was du brauchst.“ Auch in seiner Familientradition hatte es in früheren Jahrhunderten Schamanen mit besonderen Fähigkeiten gegeben. Solveig ist mit solchen Fähigkeiten ausgestattet. Der Clanführer hat keinen Zweifel. Er hat zwar Angst um seinen Lieblingsenkel, aber wenn irgend jemand helfen kann, dann wahrscheinlich Solveig.

      2.

      Zwei Tage später bricht Solveig auf, begleitet von dem Vater des Jungen, von einem der großen Brüder, und von mehreren Knechten und Treibern.

      Solveig hat sich ein großes Tuch geben lassen. Sie steigt auf das Pferd und lässt sich den achtjährigen Abay in das Tuch geben. Dann bricht die ganze Gruppe auf. Solveig trägt das Kind in ihrem Tuch. Das Pferd dirigiert sie nur mit ihren Füßen und leichten Zurufen. Sie benutzt nicht einmal einen Sattel.

      Während des langsamen Rittes ist Solveig wie weggetreten. Sie hat ein Energiefeld um sich gebreitet. Sie summt und singt. Sie wiegt sich im Schritt des Pferdes. Auch das Pferd hat längst begriffen, dass es da eine wertvolle Fracht trägt, die es zu beschützen gilt. Tiere haben für solche Dinge ein feines Gespür, und dieses Pferd nimmt die feinen Schwingungen auf, die von Solveig und dem Kind ausgehen.

      Mittags bittet sie darum anzuhalten. Sie lässt einen Tee zubereiten, aus den Kräutern, die sie mitgebracht hat, und benetzt die Lippen des Kindes damit. Sie führt einen dünnen Schlauch in den Magen und gibt ihm von diesem Tee. Sie selbst trinkt Wasser, das sie mit einigen anderen Kräutern zubereiten lässt, dann trinkt sie etwas Stutenmilch, und kaut auf mitgebrachten Blättern, die sie in eine Art Trance versetzen. Erst dann reiten sie weiter.

      Sie reiten, bis sie einen kleinen klaren See erreichen, der in einem Talkessel liegt. Dort lässt Solveig die Gruppe anhalten, und sie bittet darum, die Jurten aufzustellen.

      Während die Männer die Schlafkojen vorbereiten, summt und singt Solveig, die sich im Schneidersitz auf ein Fell gesetzt hat, das Kind in ihren Armen. Auch jetzt ist sie wieder völlig weggetreten. Das Energiefeld ist fest und weist jeden Eindringling von außen ab. Die Mitglieder der Reise wissen das schon. Es ist, wie eine undurchdringliche Mauer.

      Solveig kann aber auch unvermittelt aus dieser Selbstvergessenheit auftauchen und klare Bitten oder Anweisungen aussprechen. Jetzt bittet sie um eine eigene Jurte, ein Stück getrennt von den anderen.

      In dieser Nacht kommen die Männer nicht zum Schlafen. Solveig entfacht in der Jurte ein Blitzlichtgewitter, das so heftig wird, dass es zu Detonationen kommt. Der Donner rollt durch das Tal und die Pferde sind so unruhig, dass sie sich fast losreißen.

      Der Vater trommelt die Mannschaft zusammen, sie gehen ins Freie und beginnen zu singen und sie beten zu Allah und zu Mohammed, seinem Propheten.

      Erst am Morgen hört das Blitzlichtgewitter auf. Solveig tritt aus dem Zelt, bekleidet mit einem leichten Gewand, das nackte Kind auf den Armen, dann geht sie, wie in Trance, zum Ufer des Sees. Sie geht ins Wasser, bis sie mit dem Kind unter der Wasseroberfläche verschwunden

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