Wer macht was im Gottesdienst?. Liborius Olaf Lumma
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Ernsthaftigkeit, Authentizität und Geschlechter
Beobachtet man die Eingeweihten dabei, wie sie ein solches Zeremoniell vorbereiten oder wie sich nach dessen Abschluss lautstark darüber unterhalten, stellt man fest, dass es sich bei diesem merkwürdigen Spiel offenbar um eine todernste Sache handelt, an der sich Richtungsstreitigkeiten in der katholischen Kirche ebenso festmachen lassen wie die moralische Zuverlässigkeit der handelnden Personen.
Dieses Buch will versuchen, in einen zentralen Aspekt der katholischen Liturgie einzuführen, nämlich in die handelnden Personen und die Rollen, die sie im Zeremoniell einnehmen. Unterschiedliche Personen haben im Ritual unterschiedliche Aufgaben. Einige dieser Aufgaben scheinen dabei nahezu beliebig und spontan einzelnen Frauen, Männern, Kindern, sogar nichtkatholischen Gästen zugewiesen werden zu können, andere aber gehören exklusiv bestimmten Personen ein Leben lang, und diese letzteren sind offenkundig ausschließlich Männer.
Manche scheuen im Zusammenhang der Liturgie den Begriff Rollen, weil er ihnen zu sehr danach klingt, dass man hier nur etwas „spielt“. Im Theater kann ich einen Richter, einen Gärtner oder einen Mörder darstellen, ohne selber einer zu sein, aber geht es im Christentum nicht vielmehr darum, authentisch zu sein, kein „falsches Spiel zu spielen“ und niemandem etwas vorzumachen?
Rollen im menschlichen Leben
Entgegen diesem Eindruck möchte ich am Begriff der Rolle festhalten. Menschliches Leben ist gar nicht anders vorstellbar als durch das Einnehmen verschiedener Rollen. Eine Rolle ist nichts Falsches oder Schlechtes. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass sich Menschen je nach Situation unterschiedlich verhalten, insbesondere in Beziehung zu anderen Menschen. Wir sind soziale Wesen, interagieren mit anderen Menschen und je nach Situation sind von uns unterschiedliche Verhaltensweisen verlangt. Eltern verhalten sich gegenüber ihren eigenen Kindern anders als gegenüber fremden Kindern. Für ihre eigenen Kinder sind sie in der Rolle der Eltern, für andere Kinder aber in der Rolle von Nachbarn, Verwandten, Erziehern oder einfach nur von zufälligen Fremden auf der Straße. Im komplexen Gefüge einer Gesellschaft mit ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln verlangt jede Rolle andere Verhaltensweisen: Was für Eltern moralische und gesetzliche Pflicht ist, kann für Fremde verwerflich und strafbar sein.
Macht der Vereinsvorsitzenden – Macht der Mitglieder
Nehmen wir das Beispiel der Jahreshauptversammlung eines Vereins. Die Vereinsvorsitzende nimmt einen besonderen Platz ein, zum Beispiel am Kopf eines Tisches, oder vielleicht auch zentral auf einer Bühne in einem großen Saal. Sie muss bestimmte Tagesordnungspunkte abwickeln, zum Beispiel die Moderation der Sitzung, die Vorstellung des Rechenschaftsberichts des Vorstands oder die Ehrung verdienter Mitglieder.
Eines Tages gibt die Vorsitzende ihr Amt ab. Ab diesem Moment nimmt sie einen Platz mitten unter den anderen Mitgliedern ein. Würde sie bei der nächsten Jahreshauptversammlung beginnen, die Sitzung zu moderieren, wäre das eine erhebliche Störung. Womöglich würde die Sitzung in Chaos ausbrechen und in der Folge die Gerichte beschäftigen. Anstatt den Rechenschaftsbericht vorzutragen, hat die Ex-Vorsitzende nun eine völlig andere Aufgabe: Sie gibt ihre Stimme ab, um den neuen Vorstand rechtsgültig zu entlasten oder ihm die Entlastung zu verweigern. Diese Zuständigkeit hatte sie nicht, als sie noch selbst Vorsitzende war. Mehr noch: Sie durfte gar nicht über die Entlastung des Vorstands abstimmen.
Je nach Kontext handeln Menschen also in unterschiedlichen Rollen. Die Beispiele der Eltern und der Vereinsvorsitzenden zeigen, dass solche Rollen durch besondere Aufgaben oder Zuständigkeiten gekennzeichnet sind. Damit sind Pflichten und Rechte verbunden, anders gesagt: Verantwortung und Macht. Damit gehen aber auch andere Optionen verloren: Eltern dürfen ihre Kinder nicht einfach unbeaufsichtigt oder unversorgt lassen, um stattdessen die Freiheit der eigenen Lebensgestaltung zu genießen, sie dürfen ihre eigenen Kinder nicht vernachlässigen, sie dürfen sie auch nicht heiraten. Die Vereinsvorsitzende muss für das Vereinsgebaren rechtlich geradestehen, sie muss fast jederzeit erreichbar sein und notwendige Unterschriften fristgemäß leisten. Verantwortung und Macht bedeuten also immer auch den Verlust von Freiheiten. In dem Moment, in dem auf der Jahreshauptversammlung die Entlastung des Vorstands ansteht, geht die Macht und die Verantwortung schlagartig auf die anderen Vereinsmitglieder über. Die Vorsitzende ist jetzt machtlos, sie hat kein Stimmrecht und ist dem Urteil der versammelten Mitglieder unterworfen.
Aufeinander bezogene liturgische Rollen
Ich möchte die Rollen in der katholischen Liturgie so erschließen, dass deutlich wird, wie diese Rollen aufeinander und auf das Ritual insgesamt bezogen sind. Jede Rolle erhält ihre Bedeutung erst in Beziehung zu anderen Rollen. In Bezug auf seine Kinder ist Herr Schmidt Vater, in Bezug auf seine Eltern ist er Sohn, in Bezug auf seine Hausärztin ist er Patient, in Bezug auf seinen Tennisklub ist er vielleicht Geschäftsführer, in Bezug auf seine Firma ist er Buchhalter, Arbeitskollege, Vorgesetzter, Empfänger von Dienstanweisungen und vieles mehr.
In der katholischen Liturgie lassen sich Konstellationen finden, die der Entlastung des Vereinsvorstands nicht unähnlich sind: Wer auf den ersten Blick viel Macht hat, ist auf den zweiten Blick plötzlich machtlos. Wer auf den ersten Blick nur Mitläufer ist, trägt auf den zweiten Blick hohe Verantwortung. Verantwortung und Macht sind in der katholischen Liturgie jedenfalls keine Einbahnstraße, auch wenn das zugegebenermaßen nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Liturgische Rolle und kirchliche Macht
Eine Umfrage würde vermutlich Folgendes zutage fördern: Die meisten Katholiken (und erst recht die „nichteingeweihten“ Gäste einer katholischen Liturgie) erfahren sich im liturgischen Ritual als Zuschauer, so als gäbe es einen Gegensatz zwischen Schauspielern und Publikum. Gelegentlich wird das Publikum zwar aktiv einbezogen (durch Gesang und aufgesagte Texte), aber letztlich stehen das Ritual und die handelnden Personen wie ein fertiges Konzertprogramm bereit, ohne dass das Publikum darauf Einfluss hätte. Auch die Körperhaltung begünstigt diese Wahrnehmung: Während die handelnden Personen auf der Bühne sich hin und herbewegen und für verschiedene Handlungen ihre Plätze wechseln, sind die Zuschauer an feste Steh-, Sitz- und Knieplätze gebunden.
So verstärkt sich der Eindruck, dass es im katholischen Gottesdienst um ein Aufeinandertreffen von Mächtigen und Machtlosen geht. Die Machtlosen haben nur zwei Optionen: entweder hingehen und das Ritual über sich ergehen lassen oder gar nicht erst hingehen. Für das Programm sind ausschließlich die Mächtigen zuständig.
Nun ist Macht für die katholische Kirche ein Thema von höchster Relevanz. Unkontrollierte Macht sowie Missbrauch von Macht – moralische Macht, spirituelle Macht, körperliche Macht, sexuelle Macht – haben Menschen irreparabel an Leib und Seele geschädigt. Die katholische Kirche hat sich vor allem ab dem 19. Jahrhundert zu einer Meisterin darin entwickelt, Macht in den Händen einiger weniger Menschen zu bündeln. Ihre gesamte rechtliche Struktur ist