Rechtsmedizin. Ingo Wirth
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Diese Erscheinungen werden unsichere Zeichen des Todes genannt.
Durch sog. Lebensproben wollte man früher die Beweiskraft der unsicheren Todeszeichen erhöhen. Um den Atemstillstand nachzuweisen, wurde empfohlen, einen Spiegel vor Mund und Nase zu halten. Blieb ein Beschlagen aus, so meinte man damit den Beweis für den Atemstillstand erbracht zu haben. Zum selben Zweck wurde eine Feder vorgehalten, Seifenschaum aufgebracht oder ein randvoll gefülltes Wasserglas auf den Brustkorb gestellt. Das Erliegen der Herz-Kreislauf-Funktion sollte beispielsweise durch die Siegellackprobe festgestellt werden. Man tropfte heißen Siegellack auf die Haut und beobachtete, ob sich eine Hautrötung entwickelte. Wegen der Gefahr, dass eine Vita minima nicht erkannt wird, sind die genannten Lebensproben zur zweifelsfreien Feststellung des Todes unbrauchbar.
Die Angst vor dem Lebendig-Begrabenwerden im Zustand des Scheintodes resultierte nicht zuletzt aus der Fehldeutung von Leichenerscheinungen:
• | Der Tote „schwitzt“ – in Wirklichkeit Kondenswasser auf der abgekühlten Leiche, |
• | die Lage der Leiche verändert sich – in Wirklichkeit verursacht durch Eintreten und Lösen der Totenstarre, später durch Fäulnis, |
• | „Totenlaute“ (Stöhnen oder Seufzer) sind zu hören – in Wirklichkeit eine Leichenerscheinung, bedingt durch das Hochdrücken des Zwerchfells infolge Fäulnisgasansammlung im Bauchraum mit Entweichen von Luft durch die Stimmritze, |
• | die Aufrichtung des männlichen Gliedes – in Wirklichkeit Fäulnisgasansammlung im Gewebe der äußeren Geschlechtsorgane, |
• | die Leiche lässt eine „ganz frische Haut“ und „neue Nägel“ erkennen – in Wirklichkeit Ablösung der Oberhaut zusammen mit den Nägeln infolge Fäulnis, sodass die rosig und feucht wirkende Lederhaut bzw. die Nagelbetten frei liegen, |
• | eine verstorbene Schwangere „gebärt“ im Sarg ihr Kind – in Wirklichkeit kommt eine sog. Sarggeburt durch einen starken Fäulnisgasdruck im Bauchraum zustande, der ebenso einen Kotabgang an der Leiche bewirken kann. |
Bei Exhumierungen festgestellte Lageveränderungen der Leiche im Sarg sind zwanglos durch Umkippen oder Herunterstürzen bei unsachgemäßem Transport zu erklären.
II. Tod und Leichenuntersuchung › 4. Ärztliche Leichenschau › 4.2 Schätzung der Todeszeit
4.2 Schätzung der Todeszeit
Jede Todeszeitschätzung basiert auf dem Versuch, unter Berücksichtigung der Umgebungsbedingungen die Ausprägung der Leichenveränderungen in einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Todeseintritt zu stellen. Wie bereits erläutert, werden die Art und die Entwicklung der einzelnen Leichenerscheinungen durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren bestimmt. Ihre tatsächliche Bedeutung, insbesondere das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren, lässt sich im konkreten Fall nur schwer interpretieren. Zudem gibt es keinen momentanen Übergang vom Leben zum Tod, sodass der Todeszeitpunkt biologisch ein Todeszeitraum ist. Aus diesen Gründen muss man sich des Wahrscheinlichkeitscharakters jeder Todeszeitschätzung bewusst sein.
Trotz dieser Einschränkungen ist die Schätzung der Todeszeit für die kriminalistische Praxis unverzichtbar, vorrangig für die Feststellung möglicher Zeugen, die Alibiermittlung sowie die Aufstellung von Weg-Zeit-Diagrammen. Mitunter erlangt die Kenntnis der Todeszeit eine erbrechtliche oder auch eine versicherungsrechtliche Bedeutung. Wenn bei einem Ereignis mehrere, durch eine Erbfolge verbundene Personen sterben, kann es notwendig sein festzustellen, bei wem der Tod zuerst eintrat.
Die Schätzung der Todeszeit ist eine verantwortungsvolle Aufgabe und muss dem Fachmann überlassen werden. Der Rechtsmediziner verfügt über die notwendigen Spezialkenntnisse, Untersuchungsmethoden und Erfahrungen, benötigt aber Angaben über die Umstände, unter denen die Leichenveränderungen zustande gekommen sind. Einige Faktoren kann er am Leichenfundort selbst feststellen. Nicht selten ist er jedoch auf die Ergebnisse der kriminalistischen Ermittlungen angewiesen.
Von speziellen Fällen auf der Intensivstation abgesehen, ist die Feststellung der Todeszeit zumeist die Schätzung eines Zeitbereichs. Im Interesse der Ermittlungen sollte eher ein größeres Todeszeitintervall angenommen werden. Zudem ist in der Anfangsphase der Ermittlungen bei schriftlichen Äußerungen zum Todeszeitpunkt vorsichtige Zurückhaltung geboten. Einmal aktenkundig geworden, lässt sich eine Angabe nur mit großen Schwierigkeiten korrigieren. Deshalb empfehlen sich Zusätze wie „etwa“ oder „vermutlich“, die in dieser Phase keineswegs Ausdruck fachlicher Unsicherheit sind, sondern verantwortliches Handeln bedeuten.
Je länger das zum Tod führende Ereignis zurückliegt, desto weniger exakt wird die Aussage. Liegen die Angaben unmittelbar nach dem Todeseintritt noch im Stundenbereich, wird man bei fortgeschrittenen Leichenveränderungen den Zeitraum nicht weiter als auf Wochen oder Monate, bei Skelettfunden sogar Jahre oder Jahrzehnte eingrenzen können.
Die Eintragung des Leichenschauarztes zur Sterbezeit auf der Todesbescheinigung ist bei kriminalistisch relevanten Todesfällen mit größter Zurückhaltung zu bewerten. Erlangt die Sterbezeit für die Versionsbildung eine zentrale Bedeutung, darf die Angabe von der Todesbescheinigung keinesfalls ohne Weiteres übernommen werden. Vielmehr sollte der Rechtsmediziner seine Möglichkeiten zur Todeszeitschätzung ausschöpfen. Dessen Ergebnis wiederum muss unbedingt durch kriminalistische Ermittlungen abgesichert werden.
Unter Leichenliegezeit versteht man den Zeitraum zwischen dem Eintritt des Todes und dem Auffinden des Leichnams. Die Todeszeit ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Tatzeit, denn Art, Schwere und Lokalisation der Gewalteinwirkung können eine gewisse Überlebenszeit zulassen. Nur dann sind Tatzeit und Todeszeit identisch, wenn die Überlebenszeit gleich Null ist, wie etwa bei vollständiger Abtrennung des Kopfes.
Zur Schätzung der Todeszeit eignen sich
• | supravitale Reaktionen, |
• | frühe Leichenveränderungen, |
• | späte Leichenveränderungen, |
• | andere medizinische Befunde und |
• | kriminalistische Ermittlungsergebnisse. |
In der Phase des intermediären Lebens lassen sich supravitale Reaktionen auslösen. Diese Erscheinungen beruhen auf der unterschiedlich langen Überlebenszeit einzelner Gewebe und Zellen nach dem Individualtod. Praktisch bewährt haben sich die Prüfung der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit der Skelettmuskulatur sowie der Pupillenreaktionen auf Pharmaka (Tabelle 1).
Tab.