Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
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§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde
6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde
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In Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG findet sich das „Flaggschiff“ des BVerfG, die Zuständigkeit zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden. Antragsberechtigt ist „jedermann“, der behaupten kann, durch die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte, die sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes finden (Art. 1–19 GG), oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Der Gesetzgeber hat das Individualverfassungsbeschwerdeverfahren näher ausgestaltet (§§ 13 Nr 8a, 90, 92–95 BVerfGG). Er hat dabei von der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG Gebrauch gemacht und ein besonderes Annahmeverfahren vorgesehen (§§ 93a–93d BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist fristgebunden (§ 93 BVerfGG); zulässig ist sie nur dann, wenn nicht von vornherein auszuschließen ist, dass der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder der sonst rügefähigen Rechte verletzt ist (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Grundsätzlich muss der Beschwerdeführer, bevor er das BVerfG anruft, vor den Fachgerichten ordnungsgemäß, aber erfolglos um Grundrechtsschutz nachgesucht haben (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).
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Eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde endet mit einem Feststellungstenor (§ 95 Abs. 1 BVerfGG); Entscheidungen von Gerichten und Behörden, die den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzen, werden aufgehoben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Da zur öffentlichen Gewalt auch der Gesetzgeber zählt und eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung auch deshalb Grundrechte verletzen kann, weil sie auf einem grundrechtswidrigen Gesetz beruht, besteht auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Möglichkeit, ein Gesetz für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 3 BVerfGG).
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Die Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtssatzverfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen der Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 Abs. 2 GG) durch ein Bundes- oder Landesgesetz ist dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4b GG zugewiesen. Für Kommunalverfassungsbeschwerden gegen Landesgesetze ist das BVerfG nur zuständig, soweit nicht Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erhoben werden kann. Regelungen über das Verfahren finden sich in den §§ 13 Nr 8a, 90 Abs. 2, 91–95 BVerfGG.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 7. Nichtanerkennungsbeschwerde
7. Nichtanerkennungsbeschwerde
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Seit 2012 begründet Art. 93 Abs. 1 GG in Nr 4c auch die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über „Beschwerden von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag“. Im 17. Abschnitt des BVerfGG finden sich ergänzende Regelungen (§§ 96a–96d BVerfGG).[20] Sie zeigen, dass es sich bei der Nichtanerkennungsbeschwerde um ein „besonders beschleunigt zu betreibendes Hauptsacheverfahren“[21] handelt: Vereinigungen und Parteien, denen die Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei nach § 18 Abs. 4 BWG versagt wurde, haben nach der mündlichen Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung in der Sitzung des Bundeswahlausschusses vier Tage Zeit, dagegen Beschwerde zu erheben und diese bestmöglich[22] zu begründen. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, dem Bundesverfassungsgericht eine Frist für seine Entscheidung vorzugeben, da er davon ausging, dass das Gericht auch ohne eine solche „innerhalb des Zeitraums, den das Wahlverfahren für die Korrektur der Entscheidung des Bundeswahlausschusses zur Parteieigenschaft lässt, effektiven Rechtsschutz gewähren“ werde[23], wozu es nach Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet ist.
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Das Zeitfenster, das für das Verfahren zur Verfügung steht, ist aus wahlorganisatorischen Gründen ausgesprochen kurz: Nach § 18 Abs. 4 S. 1 BWG muss der Bundeswahlausschuss die den Beschwerdegegenstand bildende Entscheidung spätestens am 79. Tage vor der Wahl getroffen haben, und die beschwerdeführende Partei oder Vereinigung ist nach § 18 Abs. 4a S. 2 BWG längstens bis zum Ablauf des 59. Tages vor der Wahl wie eine wahlvorschlagsberechtigte Partei zu behandeln. Somit stehen für das gesamte Verfahren nur 20 Tage zur Verfügung, dem Bundesverfassungsgericht wegen der sehr kurz bemessenen Antragsfrist mindestens 16[24]. Es kann im Interesse der Verfahrensbeschleunigung ohne mündliche Verhandlung entscheiden und seine Entscheidung auch zunächst ohne Begründung bekannt geben („bloße Tenorverkündung“), was sonst nur im Verfahren der einstweiligen Anordnung möglich ist, deren Erlass hier ausgeschlossen ist, da für sie vor dem zeitlichen Hintergrund dieses besonders beschleunigten Verfahrens „weder Raum noch Bedürfnis“ besteht.[25]
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Als unzulässig „verworfen“ wird eine Nichtzulassungsbeschwerde u.a. dann, wenn die Beschwerdeführerin die Teilnahme an der Wahl (auch) aus anderen Gründen nicht mehr erreichen kann (BVerfGE 134, 122, 123). Nicht gesetzlich geregelt ist, wie der Tenor im Falle einer begründeten Beschwerde lautet. Der Gesetzgeber, der das Verfahren als Möglichkeit beschreibt, das Bundesverfassungsgericht zur „Klärung [d]es Parteienstatus“ anzurufen[26], ging wohl davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht im Erfolgsfalle nicht nur die Entscheidung des Bundeswahlausschusses aufhebt, sondern die begehrte Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei gleich selbst ausspricht, wie es das Bundesverfassungsgericht bereits getan hat (BVerfGE 134, 124) und was die Literatur mehrheitlich für richtig hält.[27]
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Eingeführt wurde das Verfahren zur Schließung einer schon seit längerer Zeit beklagten[28] und auch von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrem Bericht zur Bundestagswahl 2009 beanstandeten[29] Rechtsschutzlücke: Nach bisherigem Recht und der bisherigen Rechtsprechung[30] konnten Entscheidungen des Bundeswahlausschusses nach § 18 Abs. 4 BWG – anders als andere Entscheidungen der Wahlbehörden – erst nach der Wahl mit der Wahlprüfungsbeschwerde (und daher nur eingeschränkt, siehe Rn 934 ff), aber nicht im Vorfeld derselben gerichtlich überprüft werden.
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Soweit Kritik an dem Verfahren geübt wird (vgl dazu auch Rn 981 ff), betrifft sie hauptsächlich die Frage, ob das Verfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht in erster Linie als Tatsacheninstanz tätig wird, wie schon die zwölf Beschlüsse vom 23. Juli 2013 in aller Deutlichkeit belegen[31], „nicht doch besser bei den Verwaltungsgerichten aufgehoben gewesen wäre“[32], vorzugsweise – wie schon früher vorgeschlagen[33] – beim BVerwG. Am 25. Juli 2017 hat das BVerfG