Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
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§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 2. Abstrakte Normenkontrolle
2. Abstrakte Normenkontrolle
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Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG entscheidet das BVerfG bei „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“ über die Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Der Gesetzgeber hat das abstrakte Normenkontrollverfahren ausgestaltet (§ 13 Nr 6, §§ 76–79 BVerfGG). Soweit er für die Zulässigkeit des Antrags Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- oder Landesrecht nicht ausreichen lässt, sondern verlangt, dass der Antragsteller die Norm für nichtig bzw im Falle der beantragten Normbestätigung für gültig halten muss, nachdem Gerichte, Verwaltungsbehörden oder Organe von Bund und Ländern die von ihnen als verfassungswidrig erkannte Norm nicht angewendet haben, verlangt er – verfassungsrechtlich unbedenklich und von der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG gedeckt – als Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags das Vorliegen eines sog. objektiven Klarstellungsinteresses. Die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers soll nicht ohne Not in Frage gestellt werden.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren
3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren
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In Art. 93 Abs. 1 Nr 2a und in Art. 93 Abs. 2 GG sind zwei prozessrechtliche Sonderfälle der abstrakten Normenkontrolle geregelt, die materiellrechtlich als Spezialformen des Bund-Länder-Streitverfahrens verstanden werden können[14]. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG entscheidet das BVerfG bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Kompetenzkontrollverfahren). Der Prüfungsmaßstab dieses Verfahrens ist enger, der Kreis der Antragsberechtigten weiter als bei der abstrakten Normenkontrolle. Dadurch wird die Stellung der Landesparlamente, um deren Gesetzgebungskompetenzen es ja geht, gegenüber der jeweiligen Exekutive gestärkt[15]. Die Entscheidungswirkungen sind identisch: Ein nicht (mehr) im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird vom BVerfG gem. § 78 BVerfG für nichtig erklärt.
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Nach Art. 93 Abs. 2 GG entscheidet das BVerfG auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 GG die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte (Kompetenzfreigabeverfahren). Durch dieses Verfahren wird den Ländern die Möglichkeit eröffnet, das BVerfG anzurufen, wenn entsprechende Bundesgesetze nicht zustandekommen: Die Entscheidung des BVerfG ersetzt entsprechende Bundesgesetze gem. Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG.[16]
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Da Rechtsprechung (vgl zB BVerfGE 107, 133, 142 ff) und Literatur[17] davon ausgehen, dass Rechtsnormen nachträglich unwirksam werden können, ergeben sich Überschneidungen dieses Verfahrens mit dem Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG: Ein nicht mehr im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird verfassungswidrig und kann in diesem Verfahren für nichtig erklärt werden, so dass der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG die Anwendung des Art. 93 Abs. 2 GG in der Praxis vielfach verdrängen wird. Der eigentliche Anwendungsbereich des Kompetenzfreigabeverfahrens sind die Bundesgesetze, die auf Grund des Art. 72 Abs. 2 GG in der bis zum 15. November 1994 geltenden Fassung erlassen wurden und der damaligen Bedürfnisklausel entsprachen: Sie wurden gem. Art. 125a Abs. 2 S. 1, 2 GG durch die „Verschärfung“ des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994[18] nicht verfassungswidrig, sondern gelten bis zu einer bundesgesetzlichen „Freigabe“ weiter[19]. Erfolgt diese nicht, kann sie nur durch eine Entscheidung des BVerfG nach Art. 93 Abs. 2 GG ersetzt werden.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 4. Bund-Länder-Streitverfahren
4. Bund-Länder-Streitverfahren
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Zuständig ist das BVerfG gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG auch für die Entscheidung über die Rechte und Pflichten von Bund und Ländern. Der Gesetzgeber hat als Antragsteller und Antragsgegner im Bund-Länder-Streitverfahren nur Bundes- und Landesregierungen, jeweils „für den Bund“ oder „für ein Land“ zugelassen (§ 13 Nr 7 BVerfGG, § 68 BVerfGG). Im Übrigen verweist er auf die Regelungen für das Organstreitverfahren (§ 69 iVm §§ 64–67 BVerfGG). Daraus ergibt sich, dass auch hier „Meinungsverschiedenheiten“ nicht ausreichen, sondern dass der Antragsteller die Möglichkeit der Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung seiner Rechte, die zugleich Pflichten sind, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners dartun muss.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 5. Weitere föderative Streitigkeiten
5. Weitere föderative Streitigkeiten
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Gleich mehrere Zuständigkeiten werden dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG zugewiesen. Es soll entscheiden über „andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten“ zwischen Bund und Ländern (1. Variante, nichtverfassungsrechtliches Bund-Länder-Streitverfahren), zwischen verschiedenen Ländern (2. Variante, Länder-Streitverfahren) oder innerhalb eines Landes (3. Variante, Landesstreitigkeit) – dies aber nur, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist. Die Subsidiaritätsklausel (die sich auf alle drei Varianten bezieht) hat eine doppelte Stoßrichtung: Eine Entscheidung des BVerfG in einer der genannten Verfahrensarten kommt nicht in Betracht, wenn die Zuständigkeit des BVerfG anderweitig begründet ist. Sie kommt auch nicht in Betracht, wenn die Streitigkeit durch Gesetz einem anderen Gericht – in erster Linie die Landesverfassungsgerichte, aber auch die Verwaltungsgerichte – zugewiesen ist.
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Die praktische Bedeutung der in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG geregelten