Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
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b) Verfassungsprozessuale Bedeutung der Elfes-Logik
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Das BVerfG hat nicht nur den Kreis der rügefähigen Rechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren über den Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG hinaus erweitert, sondern auch den Prüfungsumfang in diesem Verfahren außerordentlich umfassend angelegt. In der Elfes-Entscheidung formuliert das Gericht bezogen auf Art. 2 Abs. 1 GG, was es später – konsequenterweise – auf alle übrigen Grundrechte erstreckt hat (BVerfGE 6, 32, 41):
„Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.“
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Art. 2 Abs. 1 GG wird – so verstanden – zum „Grundrecht des Bürgers, nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“ (BVerfGE 29, 402, 408). Das weitet die Verfassungsbeschwerde „tendenziell zur allgemeinen Normenkontrolle aus“ (BVerfGE 80, 137, 168 – SV Grimm). Zwar rügt der Beschwerdeführer auch in solchen Fällen – genau besehen – eine Verletzung seines Grundrechts und nicht einen Anspruch auf verfassungsmäßige Gesetzgebung, der ihm keinesfalls zukommt[8]. Dennoch stellt sich die Frage, ob dem Grundrechtsberechtigten durch Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 90 BVerfGG die Möglichkeit eröffnet werden sollte, eine derart umfassende Überprüfung eines grundrechtsbeeinträchtigenden Gesetzes zu initiieren.
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Die materiellrechtliche Überlegung, dass grundrechtliche Freiheit nach dem Willen der Verfassung die Regel sein solle und Einschränkungen dieser Freiheit nur dann verfassungsgemäß sind, wenn und soweit sie durch Gesetz, das heißt: durch ein in jeder Hinsicht verfassungsgemäßes Gesetz vermittelt werden, hilft hier nur bedingt weiter. Die Frage ist vielmehr, wie weit die Kognitionskompetenz des BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren reichen soll (s. dazu näher Rn 241 ff): „Die Rundumkontrolle ist Sache anderer Verfahren, der abstrakten Normenkontrolle nämlich und der Richtervorlage. Gegenstand und Maßstab der Verfassungsbeschwerde hingegen sind allein die Grundrechte. Und wenn diese Begrenzung Sinn machen soll, muss es eine Grundrechtsprüfung geben, die nicht auch das rein objektive Verfassungsrecht (hier: die Kompetenzvorschriften) einbezieht.“[9]
c) „Ausbau“ des Art. 38 GG zum „Anspruch auf Demokratie“
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Zu hinterfragen ist auch der in den letzten Jahren konsequent betriebene Ausbau des Art. 38 GG zum „Anspruch des Bürgers auf Demokratie“ (BVerfGE 129, 124, 169; seit BVerfGE 135, 317, 386 nur noch in Anführungszeichen)[10], der in der Maastricht-Entscheidung bereits angedeutet (BVerfGE 89, 155, 171 f), in der Lissabon-Entscheidung expliziert (BVerfGE 123, 267, 330 u. 331), im EFS-Urteil gegen Kritik verteidigt (BVerfGE 129, 124, 168 f) und in der Einstweiligen Anordnung zum ESM-Vertrag (BVerfGE 132, 195, 238), im OMT-Beschluss (BVerfGE 134, 366, 396 f), im ESM-Urteil (BVerfGE 135, 317, 386), im OMT-Urteil (142, 123, 219) und im Urteil zur Europäischen Bankenunion (BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nrn 92 u. 205 f) bekräftigt wurde[11].
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Die gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon erhobenen Verfassungsbeschwerden erachtete das BVerfG für zulässig, „soweit mit ihnen auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips gerügt wird“ (BVerfGE 123, 267, 328): Die Wahlberechtigten besäßen nach dem Grundgesetz das Recht, „über die Ablösung des Grundgesetzes ‚in freier Entscheidung‘ zu befinden“. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gewährleiste „das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. […] Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt“ (BVerfGE 123, 267, 331 f).
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Mit gewisser Konsequenz wird nun geltend gemacht, dass das so verstandene Recht jedes wahlberechtigten Bürgers auf Teilhabe an der verfassungsgebenden Gewalt aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG iVm Art. 146 GG bei jeder Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG verletzt sein müsse, da der verfassungsändernde Gesetzgeber damit in verfassungswidriger Weise in die verfassungsgebende Gewalt eingreife: „Führt man den systematischen Ansatz des BVerfG zu Ende, dann kann daher unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG jede Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden – nicht nur die Verletzung des Demokratieprinzips, sondern auch die Verletzung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien.“[12] Wortlaut und Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden auch dann gründlich überdehnt, wenn das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nur zum „Anspruch auf Demokratie“ im Sinne eines Schutzes vor Berührung der nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfesten demokratischen Grundsätze und gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe (so zuletzt BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nr 92) ausgebaut wird[13]. Auch die normative Verankerung dieses bürgerexklusiven Anspruchs in der Würde des Menschen (BVerfGE 123, 267, 341; 129, 124, 169) wirft Fragen auf.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick
III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 1. Organstreitverfahren
1. Organstreitverfahren
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Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG entscheidet das BVerfG „über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses GG oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.“ Der Gesetzgeber hat diese Zuständigkeit zur Entscheidung anlässlich solcher „Streitigkeiten“ als kontradiktorisches Organstreitverfahren ausgestaltet (§§ 13 Nr 5, 63–67 BVerfGG): Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung und die im GG oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages