Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verfassungsprozessrecht - Christian Hillgruber страница 20
§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › VII. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts
VII. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts
51
Die Autorität des BVerfG ist ungeachtet stärker gewordener Kritik an seiner weit ausgreifenden Rechtsprechung[56] unangefochten: Die Staatsorgane befolgen entweder getreulich seine Entscheidungsaussprüche oder zollen ihnen jedenfalls den geschuldeten Respekt[57]; Staatsrechtslehrer begreifen sich verbreitet sogar nur noch als – zumeist zustimmende – Kommentatoren der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung[58]. Schließlich genießt das BVerfG, anders als die übrigen Staatsorgane, geschweige denn die politischen Parteien, auch und vor allem bei den Bürgern ungebrochen höchstes Ansehen. Grund dafür dürfte zunächst die Tatsache sein, dass es die Verfassung ist, die das BVerfG interpretiert und als Kontrollmaßstab anwendet. Es ist das GG, das die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in einem Akt des Verfassungspatriotismus sich wie keine deutsche Verfassung zuvor innerlich angeeignet und zueigen gemacht haben. Davon profitiert auch das BVerfG, das seine Autorität als kontrollierendes Gericht aus eben dieser Verfassung zieht und gleichsam durch seine Urteile jene Integrationskraft entfaltet, die für das neue Staatsbewusstsein maßgeblich mitverantwortlich ist[59].
52
Gleichwohl irritiert das besonders große Vertrauen, dass die Deutschen in die Verfassungsgerichtsbarkeit setzen. Drückt sich darin etwa ein politisches Misstrauen gegen die Demokratie aus[60]? Jedenfalls fällt auf, dass die Bürger gegenüber der unmittelbar demokratisch legitimierten Volksvertretung, also ihrem eigenem „Geschöpf“, sehr viel kritischer eingestellt sind und Zweifel an dessen Leistungsfähigkeit hegen. Nun sind die Richter des BVerfG als Amtswalter ebenso wenig unfehlbar wie die Abgeordneten oder Verwaltungsbeamten. Was also macht den entscheidenden Unterschied in den Augen des Volkes aus? Möglicherweise ist es die Unnahbarkeit des BVerfG, das Geheimnisvolle dieses aristokratisch strukturierten Verfassungsorgans. Die Rechtsprechung des BVerfG ist vielleicht noch das einzig verbliebene „Geheimnis im Staat der Öffentlichkeit“[61]. Die Entscheidungsfindung bleibt im Verborgenen, die Entscheidungen selbst dem Normalbürger unverständlich, aber Respekt erheischend, wozu die roten Roben das ihre beitragen. Intransparenz verschafft Würde, und Würde begründet Legitimität[62]. Nicht Nähe und Durchschaubarkeit, sondern Distanz und Würde, die Respekt gebieten, sind dann das Geheimnis des Erfolges, auch des BVerfG.
53
Literatur:
H.P. Aust/F. Meinel, Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG. Tenor, Systematik und Wirkungen. JuS 2014, 25–30 (Teil I); 113–117 (Teil II); P. Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber, DÖV 64 (2011), 267; W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, NJW 2001, 1; I. Ebsen, Das BVerfG als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985; C. Hillgruber, Dispositives Verfassungsrecht, zwingendes Völkerrecht: Verkehrte juristische Welt?, in: JöR 54 (2006), 57; ders., Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60 Jahren, JZ 2011, 861; M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 77; ders., Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: FS Isensee, 183; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG I (2001), 507; S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), ebd., 55; K. Lange, Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, JuS 1978, 1; O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 159; J. Limbach, Das BVerfG als politischer Machtfaktor, Speyerer Vorträge H. 30 (1995), 13; dies., Integrationskraft des BVerfG (1999); C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 281. F. Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, ebd., 33; H. Sauer, Demokratische Legitimation zwischen Staatsorganisationsrecht und grundrechtlichem Teilhabeanspruch, in: Der Staat 58 (2019), 7; B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), 161; C. Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 9; C. Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, ebd., 1; R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), 485; H.A. Wolff, Der Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren um das Brandenburgische Schulgesetz (LER) – Verfahrensfortbildung contra legem, EuGRZ 2003, 463; J. Ziekow, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Jura 1995, 522.
Anmerkungen
Nur ausnahmsweise wird die Entscheidungszuständigkeit des BVerfG über den durch den Antrag bestimmten Streitgegenstand hinaus erstreckt; vgl §§ 78 S. 2, 82 Abs. 1 BVerfGG; zur entsprechenden Anwendbarkeit des § 78 S. 2 BVerfGG im Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl BVerfGE 18, 288, 300; 98, 365, 401. Zu den Voraussetzungen und Grenzen der Ausweitung des Prüfungsgegenstandes und der Erstreckung der Nichtigerklärung gemäß § 78 S. 2 BVerfGG vgl BVerfGE 91, 1, 39–42 – SV Graßhof.
Kritisch auch F. Schoch, in: FS 50 Jahre BVerfG I, 695, 719.
Zustimmend H. Lang, DÖV 1999, 624 ff; M. Cornils, NJW 1998, 3624 ff; mit Blick auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren ablehnend V. Wagner, NJW 1998, 2638 ff.
S. dazu H.A. Wolff, EuGRZ 2003, 463; C. Hillgruber, JöR 54 (2006), 57 ff.
Richter sollten sich mit öffentlichen Äußerungen zu politischen (und damit in aller Regel zugleich verfassungsrechtlichen) Streitfragen, über die möglicherweise das BVerfG