BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil. Harm Peter Westermann
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S ist der Sohn von V, lebt allerdings bei seiner geschiedenen Mutter M. Im Juli 2015 fordert er V schriftlich dazu auf, ihm Auskunft über dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu geben. V sendet ihm die gewünschten Informationen zu und bittet seinerseits um Angaben zum Gehalt der Mutter, welche er in der Folge auch bekommt. Auf dieser Grundlage errechnet er einen monatlichen Unterhalt von 140 Euro. Er teilt S seinen Standpunkt mit und bittet ihn, dazu Stellung zu nehmen und eventuell eine eigene Berechnung vorzulegen. Nachdem er trotz mehrmaliger Nachfragen keine Antwort erhält, beginnt er mit der Zahlung des Unterhalts auf Basis der von ihm errechneten Summe. Im August 2017 meldet sich dann wiederum S, der den ihm zustehenden Unterhalt mit 205 Euro pro Monat angibt und dementsprechend Nachzahlung verlangt. V weigert sich unter Verweis auf die verstrichene Zeit. Zu Recht?
Fall 4:
A verkauft B ein Gemälde, an dem diese schon lange interessiert war, für 1.000 Euro. Noch bevor B das gute Stück bei A abholen und ihrerseits bezahlen kann, macht C allerdings ein Angebot über 1.500 Euro, dem A nicht widerstehen kann. Er nimmt es an und übergibt das Gemälde unverzüglich an C, der ihm wiederum das Geld aushändigt. B ist empört und möchte das nicht auf sich sitzen lassen. Als sie von A erneut Übereignung verlangt, entgegnet dieser wahrheitsgemäß, er selbst habe das Gemälde nicht mehr und C sei nicht zur Herausgabe bereit. B überlegt nun, wie sie trotzdem an das Kunstwerk gelangen kann, und sieht ihre einzige Chance darin, C in die Pflicht zu nehmen. Kann sie von C Übergabe und Übereignung verlangen?
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Das Schuldrecht ist keine akademische Spielerei oder Zweck an sich. Es erfüllt vielmehr in unserem Rechtssystem und unserer Gesellschaft wichtige und vielschichtige Aufgaben. Man kann deshalb das Schuldrecht auch nicht aus sich selbst heraus, isoliert von seinem ökonomischen oder sozialen Hintergrund, verstehen. Vielmehr lässt sich das Schuldrecht nur begreifen, wenn und indem man sich Gedanken über seine Ziele macht. Dazu dient dieses Kapitel. Auch für die Lösung von Fällen und Prüfungsarbeiten ist es wichtig, sich Gedanken über die Motivation hinter einer Norm zu machen. Wer Fälle löst, muss häufig teleologisch argumentieren, also nach Zwecken bestimmter schuldrechtlicher Normen fragen. Dazu ist es hilfreich, auch über die Ziele des Schuldrechts als Rechtsgebiet nachgedacht zu haben. Die Ziele des Schuldrechts spiegeln sich größtenteils in seinen Prinzipien wider. Dabei geht es um Grundgedanken oder Grundstrukturen, die für das Schuldrecht prägend sind und die Rechtsanwendung bei schwierigen Fällen leiten können. Prinzipien können miteinander in Konflikt geraten. Die Vertragsfreiheit umfasst beispielsweise die Freiheit, einen Vertrag mit einer anderen Person abzuschließen oder auch nicht abzuschließen. Das Prinzip der Gleichbehandlung kann dagegen verlangen, dass jemand einen Vertrag mit einer Person abschließt, mit der er nicht kontrahieren möchte. Die Prinzipien müssen daher bei der Bestimmung dessen, was gilt, gegeneinander abgewogen werden. Diese Abwägung ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers. Aber auch in der Anwendung des Rechts (vor allem durch Gerichte) kann es zu Abwägungsentscheidungen kommen, die sorgsam begründet werden müssen.
Teil I Grundlagen › § 1 Ziele und Prinzipien des Schuldrechts › I. Gerechtigkeit als Idee des Schuldrechts
I. Gerechtigkeit als Idee des Schuldrechts
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Sucht man nach einer Idee des Rechts, also einem außerhalb des Rechts liegenden Prinzip, auf dessen Verwirklichung alles Recht ausgerichtet ist, gelangt man zur Gerechtigkeit. Gustav Radbruch bringt diese Zielrichtung des Rechts klar zum Ausdruck: „Die Idee des Rechts kann nun keine andere sein als die Gerechtigkeit.“[1] Auch das Schuldrecht ist Teil des Rechts, so dass auch seine Grundidee keine andere als die Gerechtigkeit sein kann.[2] Die Gerechtigkeit lässt sich nicht durch abstrakte Definitionen bestimmen. Sie ist ein Ideal, dessen Verwirklichung schuldrechtliche Normen zwar zum Ziel haben, das sie aber letztlich nie vollständig erreichen können. Die konkreten Inhalte der Gerechtigkeit stehen nicht objektiv fest, so als könnten sie in der Rechtsanwendung lediglich entdeckt werden. Vielmehr werden sie immer wieder von neuem bestimmt. Dabei spielen auch die jeweiligen ökonomischen, gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse eine wichtige Rolle. Die Konkretisierung der Gerechtigkeit erfolgt im juristischen Diskurs der Akteure des Rechts – also durch Richterinnen und Richter, aber auch Beamte, Anwältinnen und sogar Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler.[3]
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Die Gerechtigkeit als Grundidee des Schuldrechts zu sehen, kann helfen, unserer Privatrechtsordnung Stabilität zu vermitteln: Das Schuldrecht wird maßgeblich davon mitgeprägt, dass Ansprüche durch staatliche Gewalt durchgesetzt werden.[4] Dies zu akzeptieren, fällt den meisten Menschen leichter, wenn sie annehmen dürfen, dass die Regeln des Schuldrechts auf Gerechtigkeit hin ausgerichtet und nicht bloß beliebig gesetzt sind.[5] Ein weiterer Vorzug der Gerechtigkeit als Idee des Rechts liegt darin, den juristischen Diskurs zwanglos auf breitere Grundlage zu stellen: Rechtliche Diskussionen werden so grundsätzlich offen für Gerechtigkeitsargumente. So lassen sich auch Diskurse über Generalklauseln wie § 138 oder § 242 besser erklären, die ohnehin auch außerrechtliche, moralische Argumentationslinien aufweisen.
1. Austauschgerechtigkeit (bzw ausgleichende Gerechtigkeit) und Verteilungsgerechtigkeit
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Herkömmlich wird als Gerechtigkeitsform des Privatrechts die Austauschgerechtigkeit (bzw ausgleichende Gerechtigkeit) betrachtet, die Verteilungsgerechtigkeit gilt dagegen als Gerechtigkeitsform des öffentlichen Rechts.[6] Diese Zuordnung erscheint auf den ersten Blick gerade für das Schuldrecht plausibel, dessen Paradigma ja der zweiseitige Austauschvertrag ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Austauschgerechtigkeit (bzw ausgleichende Gerechtigkeit) und Verteilungsgerechtigkeit im Schuldrecht gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinanderstehen und das Schuldrecht prägen.[7]
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Die Austauschgerechtigkeit – die paradigmatisch auf die Gerechtigkeit zwischen zwei Personen abzielt, ohne Verteilungswirkungen oder Verallgemeinerungen zu betrachten[8] – steht im Schuldrecht bei vielen Regeln und Prinzipien im Vordergrund. Häufig geht es im Schuldrecht gerade um die Gerechtigkeit im Verhältnis von Schuldner und Gläubiger. Wenn etwa Hauptleistungspflichten das Äquivalenzinteresse schützen, soll damit die Gleichheit von Leistung und Gegenleistung gesichert und so ein auf die beiden beteiligten Personen fokussierender Gerechtigkeitsgedanke umgesetzt werden. Das Austauschverhältnis wird dabei wie durch ein Brennglas betrachtet. Auf Auswirkungen, die über das konkrete Zweipersonenverhältnis hinausgehen (die man auch externe Effekte nennen kann), scheint es nicht anzukommen. Was zwischen den beiden Parteien „gleichwertig“ ist, hängt auch entscheidend von dem ab, was die Parteien vereinbart haben (vgl auch § 346 Abs. 2 S. 2). Hier zeigt sich die besondere Nähe der Austauschgerechtigkeit zur Vertragsfreiheit. Auch das Schadensrecht zielt in vielen Fällen vor allem darauf ab, einen beiderseits gerechten Interessenausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem herzustellen.[9] So ist die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schadensersatzrechts Ausdruck der ausgleichenden Gerechtigkeit.
2. Verteilungsgerechtigkeit im Schuldrecht
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Aber auch