BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil. Harm Peter Westermann
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Inwieweit bzw an welchen Stellen des Schuldrechts Verteilungsgerechtigkeit oder Austauschgerechtigkeit im Vordergrund stehen, ist in erster Linie eine Entscheidung des Gesetzgebers. In der Rechtsanwendung sind die gesetzgeberischen Wertungsentscheidungen zu berücksichtigen. Beide Gerechtigkeitsperspektiven können zu identischen Forderungen führen oder Anwendungsentscheidungen in gleicher Weise begründen. Es kann in der Rechtsanwendung aber auch dazu kommen, dass ein Konflikt zwischen der Austauschgerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit zu entscheiden ist. Solche Konflikte können immer nur im Einzelfall aufgelöst werden. Dabei besteht kein Vorrang der einen oder anderen Gerechtigkeitsform. Vielmehr sind Verteilungsgerechtigkeit und Austauschgerechtigkeit im Schuldrecht gleichwertige und gleichrangige Gerechtigkeitsperspektiven.[14] Ähnlich wie bei der Abwägung zwischen Prinzipien kommt es daher bei Konfliktentscheidungen zuvorderst auf eine sorgsame Begründung der jeweiligen Vorrangentscheidung an. Allgemeine Aussagen lassen sich nur schwer treffen. Denn die Entscheidung hängt immer von den jeweiligen historischen, sozialen, ökonomischen und politischen Kontexten der jeweiligen Regelungsmaterie und des jeweiligen Einzelfalls ab. Beispielsweise dürfte die Perspektive der Austauschgerechtigkeit bei Schuldverhältnissen zwischen Unternehmern sowie im Handelsrecht im Vordergrund stehen, weil in diesen Kontexten Schnelligkeit und Sicherheit ein hohes Gut sind. Die mit der Austauschgerechtigkeit einhergehende Abstraktion und Dekontextualisierung kommt dem entgegen, weil beides die Rechtsanwendung vereinfacht. Andererseits spielt die Gerechtigkeitsperspektive der Verteilungsgerechtigkeit dort eine besondere Rolle, wo es um den Schutz Schwächerer geht oder auch, wenn die Prävention bestimmter Verhaltensweisen im Vordergrund steht.
Teil I Grundlagen › § 1 Ziele und Prinzipien des Schuldrechts › II. Rechtssicherheit und Rechtsfrieden
II. Rechtssicherheit und Rechtsfrieden
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Ein wichtiges Ziel des Schuldrechts ist es, Rechtssicherheit zu gewährleisten und so zum Rechtsfrieden beizutragen. Schuldner und Gläubiger erhalten durch die schuldrechtlichen Normen und ihre Konkretisierungen in der Rechtsprechung Klarheit über ihre wechselseitigen Rechte und Pflichten. So können Streitigkeiten oft schon im Vorfeld verhindert werden.
Teil I Grundlagen › § 1 Ziele und Prinzipien des Schuldrechts › III. Vertragsfreiheit
1. Grundgedanken
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Schuldverhältnisse beruhen oft auf Verträgen. Welche Inhalte Verträge haben, wird in der Praxis auch durch Parteivereinbarungen mitbestimmt. Das wird vom Prinzip der Vertragsfreiheit aufgegriffen. Die Vertragsfreiheit gehört zur Privatautonomie. Als schuldrechtliches Prinzip hat die Vertragsfreiheit eine wichtige Funktion: Sie berücksichtigt unser Bedürfnis, uns zumindest auch als freie und verantwortliche Menschen denken zu können.[15] Vertragsfreiheit umfasst die Abschlussfreiheit der Vertragsparteien. Private Akteure dürfen, soweit ihnen Abschlussfreiheit zukommt, frei entscheiden, ob sie überhaupt kontrahieren wollen, mit wem sie kontrahieren wollen und in welcher Form. Ähnliches gilt für den Inhalt der Verträge: Die Vertragsparteien – und nur sie – können im rechtlich vorgegebenen Rahmen eigenverantwortlich den Inhalt ihrer Verträge bestimmen und ändern (Vertragsinhaltsfreiheit). Man spricht insoweit auch von der Gestaltungsfreiheit und der Abänderungsfreiheit. Die einzelnen Facetten der Vertragsfreiheit werden durch viele gesetzliche Bestimmungen ausgestaltet.[16]
2. Formale und materielle Aspekte der Vertragsfreiheit
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Vertragsfreiheit hat – wie die Freiheit im Allgemeinen – formale („Freiheit von“[17]) und materielle („Freiheit zu“[18]) Facetten. Im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wurden Privatautonomie und Vertragsfreiheit weitgehend formal konzipiert, also als Institute der Sicherung formaler Freiheit verstanden.[19] Es ging vor allem darum, „Freiheit von staatlicher Einmischung“ zu garantieren. Diese Konzeption wirkt bis heute fort: Vertragsfreiheit wird oft als Selbstgesetzgebung Privater verstanden. Vertragsinhalte gelten danach nicht etwa deshalb, weil sie aus einer überindividuellen Perspektive zweckmäßig oder gerecht sind, sondern schlicht, weil sie privatautonom gesetzt sind.[20] Freiheit ersetzt danach Gerechtigkeit.[21] Die als „frei“ und „gleich“ gedachten Menschen selbst, nicht aber der Staat, definieren den Inhalt privatautonom begründeter Rechtssätze. Dem Staat kommt lediglich eine „Nachtwächterfunktion“ zu: Er sichert vor allem die Geltung und die Vollstreckung frei verhandelter Vertragsinhalte.[22] Das Hauptanliegen dieser Konzeption besteht darin, die Verkehrssicherheit und den Wettbewerb zu fördern. Ein wichtiges Kennzeichen des formalen Verständnisses von Vertragsfreiheit ist die Abstraktion, die Ausklammerung individueller Besonderheiten und sozialer, ökonomischer und historischer Kontexte.[23] Vielen Normen des allgemeinen Schuldrechts liegt noch heute eine formale Konzeption zugrunde. Gerade das allgemeine Schuldrecht abstrahiert häufig von den individuellen Merkmalen der Personen und reduziert sie auf ihre grundlegenden Eigenschaften als „Schuldner“ bzw „Gläubiger“. Das zeigt sich fast durchgängig an allgemein gehaltenen Schuldrechtsnormen, beispielsweise gleich bei § 241: Für diese Norm scheinen wirtschaftliche Machtrelationen, Informationsgefälle und ähnliches irrelevant zu bleiben.
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Dem allgemeinen Schuldrecht liegt oft aber auch die Konzeption material verstandener Vertragsfreiheit zugrunde.[24] Materielle Elemente gehen über die formale Freiheit hinaus: Vertragsfreiheit wird vielmehr mit verschiedenen Inhalten aufgefüllt: Danach dient die Vertragsfreiheit verschiedenen Zwecken wie der Erzielung eines gerechten Austausches zwischen den Beteiligten, die in Solidarität kooperieren. Material verstandene Vertragsfreiheit berücksichtigt auch die ökonomischen, sozialen und politischen Kontexte. Das zeigt sich etwa dann, wenn Aufklärungspflichten zum Schutz unterlegener Bevölkerungsschichten angenommen werden[25] und natürlich deutlich im Verbraucherrecht: Die Vertragsinhalte – jenseits der Hauptleistungspflichten („Ware gegen Geld“) – werden dort weitgehend von Regeln bestimmt, die zugunsten der Verbraucher zwingend sind.[26] Die materiellen Elemente des Schuldrechts sind nach Inkrafttreten des BGB zunächst vor allem in der Rechtsprechung entwickelt worden.[27] Im Laufe der Zeit kamen sie immer