BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil. Harm Peter Westermann
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7. Fallgruppen
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In der Praxis haben sich zahlreiche Fallgruppen herausgebildet, die die Sicherheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung erhöhen. Auch bei der Falllösung empfiehlt es sich, § 242 möglichst in der spezifischen Ausprägung einer bestimmten Fallgruppe zu erörtern. Diese Fallgruppen geben der Norm etwas klarere Konturen. Unmöglich (oder zumindest kaum möglich) ist es dagegen, die Fallgruppen in all ihren Verästelungen und systematischen Verortungen durch die Wissenschaft zu lernen. Das wäre auch deshalb unproduktiv, weil das Recht in ständiger Entwicklung ist und § 242 ja gerade auch die Entwicklungsoffenheit des Rechts ermöglicht. Sie sollten sich daher darauf konzentrieren, gesetzliche Grundgedanken in die Abwägung einfließen zu lassen und dadurch den sicheren Umgang mit deutungsoffenen Leitprinzipien zu beweisen. Hilfreich mag es darüber hinaus freilich auch sein, zu einigen Konstellationen Urteile zu lesen. Dabei erhält man gute Eindrücke davon, wie Gerichte die Anwendung des § 242 im Einzelfall begründen. Das kann für Klausuren sehr nützlich sein, wenn die dort behandelten Konstellationen Ähnlichkeiten oder auch Differenzen zu Fällen aus der Praxis aufweisen. Die Zuordnung einzelner Fälle in bestimmte Fallgruppen darf indes auch nicht überbewertet werden, ist sie doch in vielen Fällen fließend.
a) Konkretisierung und Ergänzung rechtlicher Befugnisse
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Der Grundsatz von Treu und Glauben konkretisiert rechtliche Befugnisse. Das zeigen schon die vom Wortlaut des § 242 geregelten Tatbestände. Nach § 242 ist der Schuldner verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Damit wird präzisiert, wie die Leistung zu erbringen ist. Es geht also um die Modalitäten der Leistungserbringung. § 242 ergänzt insoweit die §§ 243-274.[75] Wenn A beispielsweise sein Fahrrad an B verkauft und die beiden verabreden, dass A das Rad in den nächsten Tagen vorbeibringt, verlangt § 242, dass A nicht zur Unzeit kommt (etwa um 3 Uhr morgens). Ein anderes Beispiel bietet die Erfüllung am Erfüllungsort (§ 269)[76]. Wenn dort die Leistung etwa wegen einer Naturkatastrophe oder eines Bürgerkriegs unzumutbar oder unmöglich ist, muss sich der Schuldner auf einen anderen angemessenen Erfüllungsort einlassen.[77] Umgekehrt muss auch der Gläubiger seinerseits die Leistung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verlangen.[78] So kann er dazu angehalten sein, eine Überweisung auf ein anderes als das von ihm angegebene Konto zu akzeptieren, wenn ihm daraus keine rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachteile erwachsen.[79] Auch der Inhalt von Nebenleistungspflichten (§ 241 Abs. 1) und Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2) wird unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ermittelt.[80]
b) Begrenzung rechtlicher Befugnisse (insbesondere: Rechtsmissbrauch und Verwirkung)
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§ 242 kann rechtliche Befugnisse aber auch begrenzen. Hier zeigt sich die Kontrollfunktion von Treu und Glauben: In der Rechtsanwendung kann überprüft werden, ob die Ausübung rechtlicher Befugnisse im konkreten Fall treuwidrig ist. Die Befugnis kann dann entsprechend eingeschränkt werden. Die wichtigsten Ausprägungen dieser Fallgruppe sind die Institute des Rechtsmissbrauchs (bzw der unzulässigen Rechtsausübung) und der Verwirkung. Sie zeigt sich aber auch etwa in der Begrenzung des § 266: Der Gläubiger ist danach berechtigt, Teilzahlungen zurückzuweisen. § 242 begrenzt diese Befugnis: Wenn nur ein relativ geringfügiger Teilbetrag fehlt, darf der Gläubiger die Annahme nicht verweigern.[81]
aa) Rechtsmissbrauch (unzulässige Rechtsausübung)
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Rechtsmissbrauch (unzulässige Rechtsausübung) ist mit § 242 nicht vereinbar. Darin zeigen sich immanente Grenzen aller rechtlichen Befugnisse.[82] Der BGH beschreibt den Kerngedanken wie folgt: „Das Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung und setzt der (auch gesetzlich zulässigen) Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt“.[83] Rechtsmissbrauch ist also ergebnisorientiert und kann für die Verwirklichung gerechter Rechtsanwendung fruchtbar werden. Allerdings darf die Richterin (und auch die Studentin in Klausuren) nicht vorschnell eigene Gerechtigkeitserwägungen an die Stelle der Wertungsentscheidungen des Gesetzes setzen.[84] Bei zielgerichtetem, treuwidrigem Verhalten liegt § 242 nahe. Das darf aber nicht leichthin angenommen werden. Beispielsweise handeln Käufer, die bei Internetauktionen mitbieten, um von einem vorzeitigen Auktionsabbruch zu profitieren („Abbruchjäger“), grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich.[85] Rechtsmissbrauch kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Interessenlage und der jeweiligen Fallbesonderheiten bejaht werden. Die Begründungslast ist hoch, weil § 242 hier insoweit als Ausnahme zu prima facie gegebenen rechtlichen Befugnissen wirkt. Rechtsmissbrauch setzt kein Verschulden voraus; allerdings sind in der Abwägung Verschuldenselemente zu berücksichtigen.[86] Rechtsmissbrauch ist eine sehr weite Fallgruppe, zu der sich zahlreiche Unterfallgruppen gebildet haben:
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Eine Unterfallgruppe ist die missbräuchliche Forderung einer Leistung, die ohnehin sogleich wieder zurückgewährt werden müsste (dolo agit qui petit quod statim redditurus est). So kann etwa die Honorarforderung eines Architekten rechtsmissbräuchlich sein, wenn er das Erlangte sofort wieder als Schadensersatz herausgeben müsste.[87] Auch kann ein Vermieter vom Mieter nicht die Entfernung einer ohne Zustimmung des Vermieters angebrachten Parabolantenne verlangen, wenn er verpflichtet war, der Anbringung zuzustimmen.[88]
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Rechtsmissbrauch kann auch wegen Unverhältnismäßigkeit zu bejahen sein.[89] Der Verhältnismäßigkeitsgedanke zeigt sich in vielen schuldrechtlichen Normen, wie etwa den §§ 320 Abs. 2, 323 Abs. 5 S. 2, 439 Abs. 4 oder 543 Abs. 2 Nr 2. Aber auch außerhalb dieser Normen wirkt über § 242 ein Verhältnismäßigkeitsgebot im Schuldrecht. Beispielsweise kann der Käufer eines Neuwagens wegen Unverhältnismäßigkeit gem. § 242 daran gehindert sein, die Kaufpreiszahlung gem. § 320 Abs. 1 S. 1 wegen eines Sachmangels vollständig zu verweigern.[90] Allerdings liegen die Hürden für § 242 auch hier hoch. So hat der BGH Rechtsmissbrauch wegen Unverhältnismäßigkeit beispielsweise bei einem bereits für ca. 250 Euro behebbaren Lackschaden eines Neuwagens verneint. Der Verkäufer hatte nicht einmal angeboten, den Schaden selbst zu beseitigen (obwohl dies zu seiner Erfüllungspflicht gehört).[91] Auch das hat der BGH als Argument für die Schutzwürdigkeit des Käufers herangezogen.
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Rechtsmissbrauch kann im Einzelfall auch damit begründet werden, dass die Ausübung des Rechts für die andere Seite „schlechthin unzumutbar“ wäre.[92] Wenn Verbraucher Widerrufsrechte ausüben, handeln sie etwa in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich iSd § 242, nämlich