BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil. Harm Peter Westermann
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Die Funktionen des Grundsatzes von Treu und Glauben sind vielschichtig. § 242 fordert Fairness im Rechtsverkehr ein[58] und kann als methodisches Instrument zur Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee eingesetzt werden. Auf § 242 gestützt können rechtliche Befugnisse begründet werden. Man spricht insoweit von der Begründungsfunktion des § 242. In der Rechtsanwendung besonders häufig ist aber die Begrenzungsfunktion der Norm, die prima facie bestehende Befugnisse eben auch eingrenzen kann. Daneben kann § 242 zu konkreteren Anforderungen an die Leistungsmodalitäten führen. Insoweit kommt der Norm also auch Konkretisierungsfunktion zu.
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§ 242 dient zudem als Einbruchsstelle für die Berücksichtigung höherrangiger Rechtsnormen wie dem Verfassungsrecht oder dem Unionsrecht. Die Norm ist deutlicher Ausdruck der Verbindung von Recht und Moral, weil der Begriff „Treu und Glauben“ als inhaltlich offene Generalklausel in der Praxis des Rechts auch unter Rückgriff auf moralische Wertungen ausgefüllt werden kann. So wird das Recht flexibel und entwicklungsoffen. Generalklauseln wie § 242 sind in hohem Maße dazu geeignet, das Schuldrecht fortzuentwickeln und es aktuellen Entwicklungen anzupassen. Das zeigt die Rechtsentwicklung im deutschen Schuldrecht deutlich: Auf § 242 gestützt hat die Rechtsprechung zentrale schuldrechtliche Institute entwickelt, die später gesetzlich geregelt wurden. Dazu gehören beispielsweise die Inhaltskontrolle bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 307 ff) und der Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313). Für die Anwendung dieser Normen ist die zuvor zu § 242 ergangene Rechtsprechung weiterhin nützlich.
3. Missbrauchspotential in Generalklauseln
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Die Entwicklungsoffenheit und die Flexibilität des Rechts bergen auch Risiken: Generalklauseln können missbraucht werden. Beispielsweise haben Privatrechtswissenschaftler im nationalsozialistischen Regime auch § 242 eingesetzt, um Teile der nationalsozialistischen Ideologie in das Privatrecht zu importieren.[59] Diese Gefahren lassen sich nie vollständig bannen, nur durch Wachsamkeit, Bildung und (zeit)geschichtliches Bewusstsein einhegen. Wenn eine Richterin § 242 anwendet, sollte sie besonders hohe Sorgfalt bei der Begründung an den Tag legen. Keinesfalls darf sie § 242 einsetzen, um gesetzgeberische Entscheidungen zu korrigieren, die ihr rechtspolitisch missfallen. Das wäre mit ihrer Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar. Auch in Prüfungsarbeiten gilt: § 242 steht nicht am Anfang der Falllösung, sondern – wenn überhaupt – am Ende. Jede Klausurbearbeiterin sollte konkretere gesetzliche Bestimmungen nur mit großer Zurückhaltung korrigieren und das sorgsam begründen. Klausuren sind nur höchst selten einmal darauf ausgelegt, über das Vehikel von Treu und Glauben zur gewünschten Lösung zu gelangen, und falls doch, dürfte regelmäßig auf die bekannten und durch die Rechtsprechung über lange Jahre etablierten Fallgruppen zurückzugreifen sein.
4. Die Bedeutung von „Treu und Glauben“ und „Verkehrssitte“
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Was „Treu und Glauben“ im Einzelfall bedeutet, wird in der Praxis des gelebten Rechts in einem immer weiter fortschreitenden Diskurs konkretisiert. Die Worte „Treu und Glauben“ werden so in ihrer Bedeutung immer weiter ausdifferenziert. Inhaltlich kann dabei auf Gerechtigkeitsargumente der Austauschgerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit zurückgegriffen werden[60]: So geht es um die Herstellung eines beiderseits gerechten Interessenausgleichs (im Sinne der Austauschgerechtigkeit), aber auch um die Erreichung regulativer Ziele außerhalb des unmittelbar betroffenen Verhältnisses (im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit).
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Auch der Begriff der Verkehrssitte muss in der Rechtsanwendung konkretisiert werden. Er umschreibt Verhaltensweisen, die sich – zumindest potentiell – empirisch feststellen lassen. Eine konkrete Ausprägung des Begriffs sind die Handelsbräuche iSd § 346 HGB. „Verkehrs-Unsitten“, die zwar u.U. gängige Praxis darstellen, aber grundlegende Wertungen oder Anforderungen von Treu und Glauben verletzen, bleiben unbeachtlich.[61]
5. Verhältnis zu anderen Generalklauseln
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§ 242 ist in der Rechtsanwendung oft schwer von der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 133, 157) abzugrenzen. Die Funktion der ergänzenden Vertragsauslegung ist es, vertragliche Lücken zu schließen. Die hM verortet sie bei § 157.[62] Maßgeblich ist dabei nach einer vom BGH in stRspr verwendeten Formel, welche Regelung die Parteien bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte als redliche Vertragspartner getroffen hätten, wenn sie den von ihnen nicht geregelten Fall bedacht hätten.[63] Maßstab der Korrektur soll der sog „hypothetische Parteiwille“ bei Vertragsschluss sein. Das lässt sich am ehesten als Topos für objektiv gebotene gerechte Ergänzungen verstehen.[64] Denn auch die ergänzende Vertragsauslegung ist ein Akt richterlicher Rechtsschöpfung: Was die Parteien wirklich gewollt hätten, wissen wir nicht.[65] Deshalb sind auch für die Lückenschließung durch ergänzende Vertragsauslegung letztlich dieselben materiellen Gerechtigkeitskriterien wie bei § 242 maßgeblich.[66]
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§ 242 steht auch in einer gewissen Nähe zu § 138.[67] In ihrer Rechtsfolge ordnen die §§ 134, 138 die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts an, während § 242 in den Rechtsfolgen flexibler ist. Grundsätzlich lässt § 242 die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts unberührt. Teilweise wirken § 138 und § 242 auch zusammen, um einen Lebenskomplex angemessen zu regulieren. Ein Beispiel bieten Eheverträge, in denen beide Normen in einem Ergänzungsverhältnis stehen: Wenn Eheverträge schon im Zeitpunkt ihres Zustandekommens zu einer einseitigen Lastenverteilung führen, können sie gem. § 138 nichtig sein. § 242 ermöglicht dagegen eine Ausübungskontrolle, wenn sich die einseitige Lastenverteilung erst aus späteren Entwicklungen ergibt.[68] Das Beispiel zeigt, dass § 242 gerade auch dann eingreifen kann, wenn ein Rechtsgeschäft nicht schon wegen Sittenverstoßes nichtig ist.
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Auch § 226 (Schikaneverbot) und § 826 (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung) sind mit dem Prinzip von Treu und Glauben verwandt. § 226 wird indes tatbestandlich eng interpretiert und greift nur ein, wenn der einzige Zweck des Handelns in der Schadenszufügung liegt. Die Norm ist deshalb in der Praxis wesentlich weniger bedeutsam als § 242. § 826 setzt im Gegensatz zu § 242 keine rechtliche Sonderverbindung voraus. Die Norm führt zu einem Schadensersatzanspruch, und zwar – anders als § 823 – auch bei reinen Vermögensschäden ohne Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind allerdings eng.[69]
6. Rechtliche Sonderverbindung als Anwendungsvoraussetzung
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§ 242 setzt eine rechtliche Sonderverbindung voraus.[70] Das ist mit Blick auf die umfassende Bedeutung des Prinzips