Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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In einen diametral entgegengesetzten Kontext, nämlich einem kapitalistischen System, sind die Beobachtungen der Zeitgenossen Clinard und Yeager einzuordnen, die 477 der größten US-amerikanischen Industrieunternehmen und 105 der größten Einzelhandels- und Dienstleistungsunternehmen im Hinblick auf deviantes Verhalten in den Jahren 1975 und 1976 untersuchten, wobei sowohl zivil-, verwaltungs- wie strafrechtliche Verfahren berücksichtigt wurden. Es wurden insgesamt nur gegen 60% der Unternehmen ein Verfahren eröffnet[9] und nur gegenüber 56% wurde eine Sanktion verhängt, die überwiegend in Verwarnungen oder einer Geldbuße bestand. Die Autoren stellen dabei auch heraus, dass es sich überwiegend um „Intensivtäter“ handelt, gegen die mehrfach ermittelt wurde[10] und die am häufigsten sanktioniert[11] wurden. Insgesamt und flächendeckend seien die Unternehmen aber nicht der „vollen Härte des Gesetzes“ ausgeliefert; es würden in diesem Bereich doppelt so viele Verwarnungen ausgesprochen als in allen übrigen Kriminalitätsbereichen.[12] Ebenfalls herausgestellt wurde die Bedeutung der Branche für die Häufigkeit wirtschaftskrimineller Vorfälle. Herausragend waren die Automobilbranche mit 20% der mittleren und schweren Rechtsverstöße und die Pharmaindustrie mit 12,5% der Verstöße sowie mit 10% die Ölbranche. Die Autoren schlossen hierbei einen positiven Zusammenhang zwischen Wachstumsraten, Produktdiversifikation und Marktmacht aus und hielten einen solchen im Hinblick auf Größe und Leistungsfähigkeit des Unternehmens für unwahrscheinlich. Insbesondere die Gegenüberstellung von Rechtsverletzung pro Umsatzeinheit statt der üblichen Häufigkeitswerte im Sinne von Rechtsverletzungen pro Großbetrieb, stützen nach Ansicht der Autoren diese Annahme.[13]
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Diese Beobachtungen werden ergänzt durch die parallele Studie von Braithwaite, der 32 international agierende Pharmazieunternehmen ebenfalls im Hinblick auf zivil-, verwaltungs- und strafrechtliche Verstöße untersuchte, hierbei jedoch seinen Fokus auf die Geschäftsführungsebene legte.[14] Er konzentrierte sich auf eine Branche und untersuchte Korruptions-, Produktsicherheits- und Kartellrechtsdelikte, aber auch „Schwindeleien“,[15] die unter Mitwirkung der Leitungsebene zur Gewinnmaximierung erfolgten. Trotz der Ausrichtung der Studie auf die personale Leitungsebene, trägt sie zwei Beobachtungen hinsichtlich struktureller Besonderheiten von corporate crime bei, nämlich zum einen die Begehung der Delikte in einem „Klima“ der Unehrlichkeit oder Toleranz von unlauteren Methoden und zum anderen die systematische „Verschleierung“ angelegter Strukturen durch doppelte Aktenführung und Einsatz externer Agenten.[16]
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Schließlich sollen diese US-amerikanischen Befunde durch die zeitlich vorangehenden Befunde Sutherlands ergänzt werden, die bislang vor allem im Zusammenhang mit wirtschaftskriminologischer Begriffsbildung thematisiert wurden. Seine Definition der white collar-Kriminalität prägte – oder revolutionierte – die (Wirtschafts-)Kriminologie auf verschiedenen Ebenen, auf die im Rahmen der Begriffsbildung noch näher einzugehen sein wird. Sutherlands Arbeiten bieten jedoch auch als kriminologische Hellfeldstudie einen empirischen Anknüpfungspunkt: Die kriminologische Erforschung der Erscheinung „Wirtschaftskriminalität“[17] hatte, abgesehen von wenigen Ausnahmen,[18] kaum stattgefunden, als Sutherland 1949 eine empirische Untersuchung der 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA begann und Verletzungen des Wettbewerbs- und Urheberrechts, unfaire Arbeitspraktiken, „ausgedehnte Betrügereien“ und ähnliche Straftaten feststellte.[19] Intuitiv – und für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung – legte Sutherland in seiner Untersuchung der Wirtschaftskriminalität den Fokus auf Unternehmen als den Hauptakteuren der Wirtschaft. Seine Kriterien, Ergebnisse und Beschreibungen blieben zwar meist abstrakt; dies jedoch deshalb, weil er eine allgemein gültige Erklärung von Kriminalität – und nicht speziell von Wirtschaftskriminalität – anstrebte.[20] Gleichwohl wurde mehr als nur ein Bezug zum Unternehmen hergestellt; es stand im Mittelpunkt seiner Untersuchung.
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Er stellte heraus, dass trotz einer Vielzahl festgestellter Verstöße gegen Wettbewerbs-, Patent- oder Arbeitsgesetze eine strafgerichtliche Verurteilung nur selten erfolgte.[21] Diesen Umstand führte er in erster Linie auf gesellschaftliche Ursachen zurück und unternahm daher im Folgenden den bekannten Vergleich der Verbrechen der „white collar-Klasse“, welche nach seiner Auffassung aus „respektablen oder wenigstens respektierten Geschäftsleuten bestand“ mit denen der „unteren Klasse“, die aus Personen mit niedrigerem sozialökonomischen Status bestand.[22] Zweck dieses Vergleichs war in erster Linie aufzuzeigen, dass die üblichen Konzepte, welche Kriminalität auf soziopathische oder psychopathische Bedingungen zurückführen, die mit Armut zusammen auftreten, unstimmig sind, weil sie wesentliche Bereiche kriminellen Verhaltens von Personen, die nicht der „Unterschicht“ angehören, unberücksichtigt lassen.[23] Trotz dieses sozialkritischen und (individual)täterorientierten Ansatzes darf m. E. nicht übersehen werden, dass er zwei – für die Erklärung von Unternehmenskriminalität bedeutsame – Aspekte benannte: zum einen beobachtete er, dass die Rechtsverstöße und „ausgedehnten Betrügereien“ über den gesamten, vierzig Jahre währenden, von ihm beobachteten Zeitraum stattfanden, also Mechanismen zum Tragen kamen, die unabhängig von Personenwechseln waren. Zum zweiten platzierte er das Individuum und seine persönliche Motivation zur Straftatbegehung erstmals in Bezug zu seiner Stellung und Funktion innerhalb eines Unternehmens. Sutherland veranschaulichte diese Beobachtung, indem er A. B. Stickney, einen Eisenbahnpräsidenten, zitiert, der im Hause J. P. Morgans im Jahre 1890 zu sechzehn anderen Eisenbahnpräsidenten gesagt haben soll: „Ich habe äußersten Respekt vor Ihnen, meine Herren, als Individuen, aber als Eisenbahnpräsidenten würde ich Ihnen nicht meine Uhr anvertrauen, ohne Sie dabei aus den Augen zu lassen.“[24]
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Eingedenk dieser speziellen Erkenntnisse zur Unternehmenskriminalität soll im Folgenden auf die empirischen Erkenntnisse zur „nächsthöheren Ebene“ – der Wirtschaftskriminalität – zurückgegriffen werden, um aktuelle Befunde einbeziehen zu können. Zudem ist es plausibel, Rückschlüsse von der „Obermenge Wirtschaftskriminalität“ auf die „Teilmenge Unternehmenskriminalität“ ziehen zu können. Wie eingangs ausgeführt ist nicht aus dem Blick zu verlieren, dass bei diesem Ansatz das Problem der selektiven Beobachtung angelegt ist, weil der befragte Beobachter gleichzeitig seinen Rollenerwartungen und Interaktionsverpflichtungen innerhalb des Unternehmens ausgesetzt ist.[25]
Anmerkungen
Lehmann und Mitarbeiter des Lehrstuhls Kriminologie der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Forschungsbericht, Erfordernisse und Möglichkeiten einer wirksamen Vorbeugung von schweren Angriffen gegen das sozialistische Eigentum im Zusammenhang mit Berufstätigkeit oder Funktionsausübung in der Wirtschaft, 1989, unveröffentlicht; hier zitiert aus Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (27 ff.).
Vgl. hierzu ausführlich ab Rn. 104 ff.