Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Friedrichs Methoden empirscher Sozialforschung, S. 248 ff., 254 f., 388 ff.
2. Forschungsberichte zur Wirtschaftskriminalität
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Die sich zunächst aufdrängende Grundlage empirischer Erkenntnisse, die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), sieht sich bezüglich ihres Aussagewertes – insbesondere im Bereich der Wirtschaftskriminalität – grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt,[1] die zum einen auf das große nicht erfasste Dunkelfeld und zum anderen auf menschliche Schwächen bei Erstellung dieser Statistik zurückzuführen sind. Allein auf polizeilicher Ebene gibt es derart unterschiedliche und wenig aufeinander abgestimmte Erfassungsmodalitäten, dass von einem verlässlichen oder gar klaren Bild, das durch die PKS gezeichnet werden könnte, nicht auszugehen ist. Unabhängig von der PKS werden allerdings vom Bundeskriminalamt jedes Jahr sogenannte Bundeslagebilder zur Wirtschaftskriminalität herausgegeben, welche auf Grundlage der PKS und den „Richtlinien über den kriminalpolizeilichen Nachrichtenaustausch bei Wirtschaftsdelikten“ (KPMD) die Erkenntnisse zum Bereich der Wirtschaftskriminalität in gestraffter Form wiedergeben. Der Abgleich mit den Erkenntnissen des polizeilichen Meldedienstes soll Verzerrungen in der Darstellung der einzelnen Berichtsjahre der PKS minimieren, die zum Beispiel durch lange Verfahrensdauern ausgelöst werden können.[2] Zudem wird im Folgenden auf den zweiten Periodischen Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2006 zurückgegriffen werden. Der Periodische Sicherheitsbericht (PSB) ist eine von den Bundesministerien der Justiz und des Inneren vorgelegte Analyse des durch die PKS und die Strafrechtspflegestatistiken gewonnen Datenmaterials. Sie beschränkt sich also nicht auf die Wiedergabe des Datenmaterials, sondern stellt auch eine systematische Aufarbeitung unter kriminologischen, soziologischen, rechtswissenschaftlichen und statistischen Aspekten dar. Neben einer Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den amtlichen Datensammlungen wird auch eine Verknüpfung mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen zu Erscheinungsformen und Ursachen von Kriminalität und ein Abgleich mit den verwendeten Daten aller Bundesländern vorgenommen. Die Untersuchung ist geographisch auf Deutschland und zeitlich auf die Kriminalitätsentwicklung seit 1999 konzentriert.
Anmerkungen
Siehe hierzu umfassend Bannenberg Korruption, S. 51 ff.
BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 222.
a) Staatliche Studien zur Wirtschaftskriminalität
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Ziel der Erstellung des Bundeslagebildes Wirtschaftskriminalität ist eine möglichst exakte Wiedergabe des Hellfeldes der Wirtschaftskriminalität, das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten zur Bekämpfung der einzelnen Phänomene in diesem Bereich und ein prognostischer Ausblick in die zukünftige Entwicklung dieses Deliktsbereichs.[1] Da es in Deutschland zur Beschreibung des Oberbegriffs „Wirtschaftskriminalität“ keine Legaldefinition gibt, wird bei der Zuordnung von Straftaten auf den Katalog des § 74c Abs. 1 Nr. 1–6b GVG zurückgegriffen.[2] Hiernach ist eine Wirtschaftsstraftat zu bejahen, wenn sie zum einen in den Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer nach § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG fällt und zum anderen im Rahmen tatsächlicher oder vorgetäuschter wirtschaftlicher Betätigung begangen wird und über eine Schädigung des Einzelnen hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen kann; als zusätzliches Kriterium dient, dass ihre Aufklärung – wahlweise oder kumulativ – besondere kaufmännische Kenntnisse erfordert. Bei einigen der aufgeführten Straftatbestände, wie z. B. Vergehen nach dem Bank-, Depot- oder Börsengesetz, wird die Qualität eines Wirtschaftsdelikts unwiderlegbar vermutet. Bei anderen wiederum (z. B. Betrug oder Untreue) wird sie nur angenommen, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“ (§ 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG).[3]
Anmerkungen
Bundeskriminalamt Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2004, S. 6.
Ergänzend hierzu orientiert sich das Bundeslagebild an der Auslegung der AG Kripo gemäß der „Richtlinien für die Analyse und Erfassung polizeilicher Vorgänge“ vom 14.12.1994.
Diese Konzeption wird von Teilen der Literatur grundsätzlich kritisiert (z. B. Otto MschrKrim 1980, 397 (399)). Einerseits ermöglicht sie zwar die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und verhindert eine uferlose Ausdehnung der Wirtschaftsdelikte als „allen sozialschädlichen Verhaltensweisen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung gefährden“, andererseits führt diese Definition auch zum Ausschluss geradezu typischer Delikte. Z. B. werden die durch das 2. WiKG vom 15.5.1986, BGBl. I, S. 721 eingeführten Straftatbestände, wie etwa die Vorenthaltung und Veruntreuung von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) oder die Computerstraftaten (§§ 202a, 263a, 269, 270, 303a, 303b StGB – Ausnahme: Computerbetrug) nicht erfasst. Eine Begrenzung des Begriffs auf diesen Deliktskatalog ist also einerseits zu eng und andererseits ist diese Definition auch insofern zu weit gefasst, als sie die sehr allgemeinen Tatbestände des Betruges, der Untreue, des Wuchers, der Vorteilsgewährung und der Bestechung mit einbezieht. So auch Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (19).
aa) Statistische Eckpunkte: Fallzahlen, Tatverdächtige, Schaden
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Von den 6.054.330 im Jahre 2009 bekannt gewordenen Straftaten sind gemäß PKS 101.340 Fälle, also 1,6%, in der Wirtschaftskriminalität zu verorten. Die Fallzahlen stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 19,9% (16.790 Fälle).[1] Dieser Anstieg der Wirtschaftsstraftaten ist bei genauerer Betrachtung auf den Anstieg der Betrugs- und Untreuestraftaten zurückzuführen.[2] Im Bereich des Kapitalanlagebetrugs wurde 2009 sogar eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr verzeichnet, was jedoch im Wesentlichen auf Großverfahren in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Sachsen zurückzuführen ist. Die dabei registrierten Schäden beliefen sich auf 418 Millionen Euro, was einen Anstieg von 57% gegenüber dem Vorjahr bedeutet.[3] Die Autoren der Studie nehmen diesbezüglich an, dass im Zuge der Medienberichterstattung zur Finanzkrise das Anzeigeverhalten der Geschädigten – beispielsweise durch gezielte Unterrichtung und Werbung von Verbraucherschutzorganisationen für Strafanzeigen gegen Vermittler – beeinflusst wurde und es sich daher um eine Aufhellung des Dunkelfelds und nicht um einen tatsächlichen Anstieg der Delikte handelt.[4] Diese Annahme scheint insofern plausibel als die übrigen Betrugsdelikte, beispielsweile im Bereich Kreditbetrug und Kreditvermittlungsbetrug, rückläufig sind.[5] Der starke Einfluss des Betrugs im Allgemeinen auf die Wirtschaftskriminalität ist nicht außergewöhnlich, sondern spiegelt die seit Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts festgestellte Dominanz des Betrugstatbestands innerhalb der polizeilich registrierten Fälle; im Durchschnitt 60% aller Fälle von Wirtschaftskriminalität.[6] Insgesamt ist eine rückläufige