Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein

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Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein

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der Kolonialgebiete beschränkte und sich dann zunehmend auf die europäischen und schließlich auf alle Gesellschaften ausdehnte. Der Staatsapparat dient in erster Linie dazu, diesen Bereich zu organisieren und zu schützen. Der Markt im oben genannten Sinne bedarf kaum einer Regulierung, da die Kundschaft dem im Beispiel erwähnten Bäcker den Rücken kehrt, wenn die Relation zwischen Preis und Qualität zu schlecht wird.

      Der Markt und die soziale Wirtschaft haben wenig mit Marktwirtschaft und Kapitalismus gemeinsam. Sie werden „von unten“ organisiert, dienen dem Überleben, sind nicht auf Profit ausgerichtet und implizieren keine Klassenherrschaft. Sie zeigen auch deutlich, dass der Kapitalismus keine Produktionsweise ist, die der Reproduktion der gesamten Gesellschaft dienen soll. Vielmehr lebt der Kapitalismus gleichsam als Parasit vom Markt und von der sozialen Wirtschaft. Er beherrscht und verändert diese, ersetzt sie aber nicht.

      Die Koexistenz von Markt, sozialer Wirtschaft und Kapitalismus organisiert der Staat unter der Kategorie der Nationalökonomie, Volkswirtschaft oder Marktwirtschaft. Durch die Kategorie wird suggeriert, dass der Kapitalismus eine Wirtschaftsform sei, eine Produktionsweise, die eine hohe Effizienz aufweist und im Dienst der Bevölkerung steht. Tatsächlich muss der Staat die Wirtschaft organisieren, weil ein reiner Kapitalismus zum sofortigen Verhungern der meisten Menschen führen würde. Denn die Arbeiter würden minimale Löhne erhalten, lebensnotwendige Sektoren würden mangels Profitchancen eingestellt, Arbeitslose bekämen kein Geld und die Vermögenskonzentration wäre noch extremer, als sie es heute schon ist.

      Wenn heutzutage vom Markt oder von Marktwirtschaft die Rede ist, meint man eigentlich Kapitalismus, rechtfertigt ihn aber durch Elemente von Markt und Marktwirtschaft. Würde man offen von Kapitalismus sprechen und zugeben, dass er dem gemeinschaftlich organisierten Wochenmarkt und der staatlich organisierten Konkurrenz der Marktwirtschaft widerspricht, wäre die Zustimmung zum System sehr gering. Da aber Wochenmarkt und Marktwirtschaft prinzipiell gut funktionierende und allgemein akzeptable Institutionen sind, suggerieren Politik, Großunternehmen und Medien, der Kapitalismus sei mit ihnen identisch, obwohl er ihre Aufhebung zum Ziel hat.

      Im Kapitalismus soll der Staat überall einspringen, wo kein Profit zu erzielen ist. Er finanziert die Ausbildung, die Infrastruktur und das Sozialsystem und kümmert sich um öffentliche Güter, die kein Privatunternehmen zu Verfügung stellen will. Gleichzeitig soll er die Bereiche dem „Markt“ überlassen, in denen ein Profit zu machen ist. Allerdings sind diese Bereiche eben kein Markt, sondern Orte kapitalistischer Monopolisierung. Fernand BraudelBraudel, Fernand erklärt: „Kapitalismus stützt sich nach wie vor auf legale oder faktische Monopole“.2 Die Vertreter der Politik machen das Spiel mit und reden genau dort vom „Markt“, wo eigentlich Kapitalismus vorliegt. Sie unterstützen die wenigen Großunternehmen im Inland und nach außen durch Zölle, Handelsverträge, Schaffung von Absatzmärkten usw. Das wird im Fortgang des Buches genauer untersucht.

      Der Kapitalismus widerspricht prinzipiell den beiden Formen des Marktes, weil sein Ziel von Anfang an die Konzentration des Gewinns in einer privilegierten Gruppe ist. Das Ziel ist im heutigen Finanzkapitalismus in höchstem Maße erreicht, weil eine kleine Gruppe von Großkapitalisten als unsichtbares Kollektiv gemeinsam alle Großunternehmen besitzt, wie ich weiter unten zeigen werde. Durch die Kollektivierung des Kapitals ist die Sicherung der Herrschaft und der Gesellschaftsordnung in höchstem Maße erreicht. Dennoch bestehen Unsicherheit und Konkurrenz fort. Die kapitalistische Gesellschaft entwickelte sich aus der internen und externen Expansion des Kapitals. Dadurch enthält sie einerseits ständige Innovation und andererseits die Möglichkeit sozialen Aufstiegs über Kapitalakkumulation. Man könnte sagen, sie werde die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Der Widerspruch zwischen Stabilität und Konkurrenz ist ein Grundmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft.

      Neu am westlichen Kapitalismus gegenüber den früheren Formen des Kapitalismus war die staatliche Institutionalisierung. Der König erhebt nicht mehr Anspruch auf den gesamten Grundbesitz, es gibt keinen erblichen Herrschaftsanspruch mehr, der Herrscher finanziert seine Privatausgaben nicht mehr durch einen willkürlich festgelegten Tribut. Der Staat ist keine Privatangelegenheit des Herrschers mehr, sondern wird ein formalisierter Apparat. Der Apparat wurde gleichzeitig mit der Entstehung des westlichen Kapitalismus Gegenstand des Kampfes zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus dem meist die Gruppe der Kapitalisten siegreich hervorging. Der König wird ersetzt durch den Staat, der in letzter Instanz Eigentümer des Bodens und des Geldes ist. Der Staat wiederum wird von der Gruppe der Kapitalisten maßgeblich beeinflusst. Seine Schulden sind im Besitz von Privatpersonen. Die meisten seiner zentralen Aktivitäten dienen der Kapitalvermehrung. Im Kapitalismus bilden die Kapitaleigentümer eine herrschende Klasse, die den Staat und seine Institutionen instrumentalisiert, um Gewinn zu machen und dadurch ihre herrschende Position zu bewahren.

      3 Kapital und Arbeit

      Im vorangehenden Kapitel wurde die Entwicklung wichtiger Elemente des Kapitalismus nachgezeichnet. Die Eigenschaften des Kapitalismus in europäischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts werden oft mit historisch getrennten Phänomenen vermischt, beispielsweise der Aufklärung, allgemeinen Bürgerrechten und der Institution des freien Markts. All diese Phänomene sind aber nicht direkt voneinander abhängig und begannen im Westen zu unterschiedlichen Zeiten. Keine einzelne Eigenschaft definiert den gesamten Kapitalismus. Wir können jedoch erst von einem entfalteten Kapitalismus sprechen, wenn zumindest die im vorangehenden Kapitel diskutierten Eigenschaften entwickelt sind. Nun müssen wir ihren Zusammenhang untersuchen.

      Eine der wichtigsten Eigenschaften des heutigen Kapitalismus ist die Beschäftigung von Lohnarbeitern durch das Kapital. Das geschah, wie das vorangehende Kapitel aufgezeigt hat, in großem Stil nicht vor dem 19. Jahrhundert. Die Menschen werden in diese Gesellschaftsform integriert, indem sie zu Lohnarbeitern werden und alle gleichermaßen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Das ist allerdings ein Nebenprodukt des Kapitalismus. Nur in der Phase der Industrialisierung besteht eine hinreichende Nachfrage nach formal freier Arbeitskraft. In den Phasen davor und danach bestehen für Menschen ohne Arbeit die Optionen Verelendung und staatliche Unterstützung. Allerdings sind die Menschen in der postindustriellen Phase potentiell freie Arbeitnehmer und potentiell gleiche Mitglieder einer Demokratie, nicht mehr Menschen ohne Bürgerrechte.

      Die vom Land vertriebenen Menschen hatten bis zur Industrialisierung in den Städten und in der Industrie keine Arbeit. Das Kapital wurde nicht in die Produktion investiert, sondern in Grundeigentum, Finanzinstrumente und den Handel, insbesondere in den Fernhandel. Erst als der Kolonialhandel nicht mehr so profitabel zu werden begann sowie Absatzmärke in Europa und den Kolonien anwuchsen, investierten Kapitalisten in Arbeit und Maschinen. Das begann nicht vor dem 18. Jahrhundert. Der größte Teil des Kapitals blieb allerdings bis heute in Land und Finanzen investiert. Auch der Handel verlor seine Bedeutung mit dem Industriekapitalismus nicht.

      Die marxistische Annahme einer polaren Gesellschaftsstruktur von Kapitalisten und Arbeitern ist daher nicht zutreffend – wenn man wie MarxMarx, Karl unter Kapitalisten Industrielle und unter Arbeitern Lohnarbeiter in der Produktion versteht.1 Diese Gruppen waren immer nur Minderheiten, auch heute. In einem anderen Sinne aber trifft die Annahme zu. Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen mit Kapital (weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung) und diejenigen ohne Kapital, die für ihren Lebensunterhalt auf die Unterstützung der Kapitaleigentümer, auf Lohnarbeit, angewiesen sind.2 Diese Struktur hat Karl Marx in seinen Frühschriften erläutert. Er schrieb, dass für den Arbeiter nur ein Leben existiere, wenn er ein Kapital finde, das ihn beschäftigt.3 Seine Bemerkung verdient eine genauere Untersuchung.

      3.1 Was ist Kapital?

      Wenn von „Kapital“ die Rede ist, erklärt man meist nicht, was gemeint ist. Häufig meint man Vermögen oder Besitz. Als Kapital kann aber nur ein Vermögen bezeichnet werden, das gewinnbringend investiert wird. Im Alltag sind wir der Meinung, dass jeder Mensch über Kapital verfügt oder zumindest prinzipiell verfügen kann. Tatsächlich ist der Besitz von Kapital im Sinne

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