Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein

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Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein

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Gruppen jedoch keinen Zugang zum Kapital haben, ist es für sie ungleich schwieriger, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

      Die Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften ist offenkundig. Während manche Familien Schlösser, Wälder, Unternehmen und Finanzinvestitionen im Wert von Milliarden besitzen, haben die meisten Menschen Mühe, mit harter Arbeit über die Runden zu kommen. Es ist auch offenkundig, dass die Nachkommen von früher unterprivilegierten Gruppen – wie Kolonialvölker, Sklaven, Arbeiter oder ethnische Minderheiten – auch heute unterprivilegiert sind. Gerade in demokratischen Staaten müsste diese Ungleichheit eigentlich ein Skandal sein, der zum sofortigen Handeln auffordert. Warum ist das nicht der Fall? Die Antwort lautet, dass Ungleichheit im Kapitalismus offiziell zum Resultat von Konkurrenz erklärt wird. Dass die Ausgangssituation der Konkurrenz von Ungleichheit geprägt ist, wird unsichtbar gemacht. Dadurch wirkt die Ungleichheit legitim. Das ist das vorrangige Geheimnis, warum sich der Kapitalismus trotz der strukturellen und historisch einzigartigen Ungleichheit aufrechtzuerhalten vermag.

      Die Sozialwissenschaften der letzten Jahrhunderte haben sich zu einem beträchtlichen Teil mit der Ungleichheit beschäftigt. Die Tradition des Liberalismus versucht seit dem 17. Jahrhundert bis heute, die Menschen zu faktisch gleichen Bürgern des Staates zu erklären. Alle sollen die gleichen politischen und wirtschaftlichen Chancen haben. Obwohl das in direktem Widerspruch zur Wirklichkeit steht, die wir jeden Tag erfahren, glauben fast alle von uns an diese Grundlage des Liberalismus: Wir sind alle gleich, uns stehen alle Möglichkeiten offen, und wer im Elend lebt, hat zumindest teilweise selbst daran schuld.

      Der Liberalismus lässt sich zum englischen Philosophen Thomas HobbesHobbes, Thomas zurückverfolgen. Inmitten des englischen Bürgerkriegs hat er sein Hauptwerk, Leviathan, geschrieben und 1651 veröffentlicht.2 Hobbes wandte Galileis Wissenschaft auf die Gesellschaft an und erklärte alle Menschen für gleiche Atome, die miteinander konkurrieren. Der Souverän, vertreten durch den Monarchen, sollte die Konkurrenz regulieren. Diese Idee hat Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques Mitte des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt und den Monarchen durch eine Volksvertretung ersetzt.3 Das Konzept der modernen Demokratie war geboren und wurde 1776 in den USA und 1789 in Frankreich zur Anwendung gebracht. Die Gesellschaft wird zur Demokratie, der Souverän ist das Volk. Allerdings hatte Rousseau eine direkte Demokratie vor Augen, in der alle Bürger in der Volksvertretung mitwirken. In der heutigen Demokratie hingegen wird das Volk vertreten durch Berufspolitiker, die sich aus den Eliten rekrutieren und von der herrschenden Klasse abhängig sind. Weiter unten werde ich zeigen, dass das einer der zentralen Schwachpunkte der heutigen Politik ist.

      HobbesHobbes, Thomas’ Theorie einer Konkurrenz gleicher Atome wurde von Adam SmithSmith, Adam auf die Wirtschaft übertragen. In seinem bekanntesten Werk, Der Wohlstand der Nationen, das im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 veröffentlicht wurde, führt Smith aus, dass der Markt als Konkurrenz zwischen freien und rechtlich gleichen Individuen ein Maximum an Produktivität, Qualität und Preissenkungen gewährleiste.4 Das gelte auch für die internationale Produktion und den Welthandel. Die Nationen sollten frei und gleich konkurrieren und sich dabei auf ihre relativen Vorteile spezialisieren. Genauso sollten sich auch Individuen und Unternehmen verhalten. Auf Grundlage des Marktes, der Arbeitsteilung und der Konkurrenz steige der Wohlstand jeder Nation. Monopole, Zünfte, Kartelle, Raub und staatliche Eingriffe seien hingegen nachteilig.

      Der Staat soll SmithSmith, Adam zufolge allerdings formal die Märkte für Arbeit und Kapital so regulieren, dass eine möglichst freie und gleiche Konkurrenz stattfindet. Dabei berücksichtigt Smith erstens nicht, dass Kapital und Fähigkeiten zu jedem Zeitpunkt sehr ungleich verteilt sind, die Menschen also mit sehr ungleichen Voraussetzungen in die Konkurrenz eintreten. Zweitens dient die Regulierung zwar dem allgemeinen Wirtschaftswachstum, dem Wohlstand der Nationen, aber dass die Profite allein den Besitzern ökonomischen Kapitals zufließen, problematisiert Smith nicht. Er schreibt, als sei es selbstverständlich, dass die Arbeiter, besser gesagt: alle Menschen ohne ausreichendes ökonomisches Kapital, nur je auszuhandelnde Festbeträge als Löhne erhalten, die Kapitalisten aber die Profite.5

      Die Gedanken von HobbesHobbes, Thomas, RousseauRousseau, Jean-Jacques und SmithSmith, Adam sind bis heute Grundlagen der Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Sie sind aber auch in die Verfassungen der meisten Staaten und – über Schulbücher, Fachliteratur, Medien und Expertenmeinungen – in das Allgemeinwissen oder den „gesunden Menschenverstand“ eingegangen. Indem wir uns die kapitalistische Welt als eine Konkurrenz gleicher und freier Individuen vorstellen, sehen wir die grundlegende Ungleichheit nicht, die sich auf vorkapitalistische Hierarchien zurückführen lässt. Vor aller Konkurrenz werden wir als Ungleiche geboren. Nur sehr wenige Menschen werden als Kapitalisten geboren. Wir werden im Folgenden sehen, dass kaum eine Mobilität aus der oder in die Kapitalistenklasse existiert, obwohl genau das die Legitimationsgrundlage des Kapitalismus sein soll.

      2.9 Entstehung von Klassen

      Die Absetzung von Adel und Monarchie durch ein demokratisches Bürgertum hat in Europa nie so stattgefunden, wie es in den Schulbüchern behauptet wird. Die alten Oberschichten behielten ihre Position bis heute bei, sie wurden nur ergänzt durch die aufsteigenden Kapitalisten, Kaufleute aus dem so genannten Bürgertum. Adlige und Kaufleute verschmolzen zu einer sozialen Klasse, die ich als herrschende Klasse bezeichnen möchte. In Extremfällen, wie im Zuge der Französischen Revolution, wurden tatsächlich viele Mitglieder der alten herrschenden Klasse ermordet und die Monarchie und Adelsprivilegien abgeschafft. Die Nachkommen der deutschen Monarchie und Aristokratie gehören jedoch weiterhin zur deutschen Oberklasse. Noch deutlicher ist der Fortbestand vorkapitalistischer Hierarchien in Großbritannien, wo dem Hochadel sogar eine eigene und besonders mächtige politische Vertretung, das Oberhaus, vorbehalten bleibt. Die Demokratie ist auf das Unterhaus begrenzt, das mit Berufspolitikern bestückt ist.

      Die Einführung der Demokratie hat nirgendwo die früheren Ungleichheiten abgeschafft. Die westliche Demokratie gleicher Bürger schloss zu Beginn nur eine kleine Gruppe Privilegierter ein. Die Ausgeschlossenen, wie Arme, Sklaven, Frauen, Ausländer und andere Gruppen, konnten durch fortwährenden Kampf, der teilweise bis heute anhält, zunehmend formal gleiche Bürgerrechte erringen. Nach deren Erringung bildeten sie eine neue unterprivilegierte Schicht, da sie nicht die gleichen Berufe, Vermögen, Ausbildungen und Netzwerke erhielten wie die alten Bürger. Einmal in die kapitalistische Demokratie integriert, vermochten einzelne Angehörige der unterprivilegierten Schichten aufzusteigen. Die vereinzelte soziale Mobilität trug dazu bei, die Herrschaftsordnung, die eine Transformation der vorkapitalistischen Ordnung ist, gleichzeitig unsichtbar zu machen und zu legitimieren. Es entstand eine nicht sichtbare Klassenhierarchie – eine unsichtbare Herrschaft.

      Derselbe Prozess vollzog sich fast gleichzeitig wie in Europa auch in den meisten Gesellschaften Nord- und Südamerikas, die um 1800 die Unabhängigkeit von ihren Kolonialherren erlangten. In vielen ehemaligen Kolonien Asiens und Afrikas hingegen wurde gleich mit der Unabhängigkeit eine Form von Demokratie eingeführt und die Bevölkerung formal gleichgestellt. Die Einrichtung einer Demokratie bedeutete jedoch nicht die Aufhebung der Ungleichheit, da die zuvor existierenden Hierarchien nie abgeschafft wurden. Die alten Eliten wurden größtenteils auch die neuen Eliten. Die Großgrundbesitzer, der Adel, die Großkaufleute und die Nachkommen der Monarchen standen um 1950 genauso an der Spitze aller Gesellschaften wie um 1700.

      Es macht allerdings einen Unterschied, ob eine bürgerliche Demokratie durch soziale Bewegungen Schritt für Schritt eingeführt wurde, wie in vielen europäischen Staaten, ob sie in einer seit langem unabhängigen Kolonie errichtet wurde, wie in Amerika, oder ob sie gleichzeitig mit der Unabhängigkeit entstand, wie in vielen Staaten Asiens und Afrikas. In den USA, Brasilien und Südafrika erhielten Menschen afrikanischer Abstammung erst im 20. Jahrhundert volle Bürgerrechte, lange nach der Unabhängigkeit. Das gilt auch für die indigenen Bevölkerungen in vielen ehemaligen Kolonien, von Neuseeland bis Kanada. Gleichzeitig bildeten die Nachkommen der früheren kolonialen Großgrundbesitzer und Gouverneure in diesen Staaten die herrschenden Klassen. Die Angehörigen der oberen Klassen in

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