Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein

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Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein

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aus Nachkommen der Afrikaner und/oder Indigenen rekrutieren.

      In Deutschland sind die historischen Strukturen kaum noch sichtbar. Es hat sich eine fest zementierte Ordnung sozialer Klassen herausgebildet, deren geschichtliche Wurzeln in grauer Vorzeit liegen. Diese Ordnung werde ich im nächsten Kapitel genauer beleuchten. In den Staaten Amerikas ist die koloniale Ordnung hingegen deutlich sichtbar. In den USA oder Brasilien beispielsweise lassen sich die Wurzeln der Sklavenhaltergesellschaft aufzeigen. Nur zehn Prozent der drei oberen sozialen Klassen Brasiliens haben keine weiße Hautfarbe, während rund zehn Prozent der unteren Klassen keine schwarze Hautfarbe haben. Die Sklaven sind nach der Befreiung in eine Unterschicht transformiert worden.1 In Thailand, das nie unter Kolonialherrschaft geraten ist, kann man die vorkapitalistischen Strukturen in der heutigen Gesellschaft auch klar erkennen. Die alte königliche Gesellschaft und die kapitalistische Klassenordnung durchdringen einander und bestehen gleichzeitig nebeneinander fort.2

      In allen Nationalstaaten begannen Kapitalismus und Demokratie entgegen der Theorie und der Verfassung als Konkurrenz von Ungleichen. Das ökonomische Kapital befand sich im Besitz einer kleinen Gruppe. Diese Gruppe verfügte auch über einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungen. Schließlich standen nur dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Möglichkeiten offen. Der Rest der Bevölkerung hatte kein ökonomisches Kapital, nicht die gleichen politischen Möglichkeiten, kein Ansehen und einen erschwerten Zugang zu Bildung, Kultur, gesellschaftlichen Ereignissen und der öffentlichen Meinung. Diese sozialen Mängel vererbt der Großteil der Menschheit bis heute seinen Nachkommen, wie wir weiter unten sehen werden.

      2.10 Gleichheit und Freiheit

      In der Schule lernen wir, dass Demokratie und Kapitalismus in derselben historischen Periode entstanden. Die Demokratie soll auf einen Schlag die Gleichheit der Bürger hergestellt haben – auch wenn nicht alle Menschen sofort die Bürgerrechte erhielten. Der freie Markt soll den Kapitalismus hervorgebracht haben, der sich dank höherer Produktivität innerhalb jedes Staates durchsetzte, zuerst in Europa, ganz unabhängig von der Weltpolitik und vom Kolonialismus. Die cleversten Bürger sollen zu Kapitalisten aufgestiegen sein – ohne Kapital geerbt zu haben und ohne es an die nächste Generation weiterzuvererben und auf diese Weise die Chancengleichheit zu zerstören.

      Diese Erzählung ist falsch. Erst wurde das kapitalistische System geschaffen: das Prinzip der Kapitalvermehrung auf der Grundlage von Privateigentum in Verbindung mit dem Nationalstaat, dessen Finanzen sich teilweise im Besitz von Großeigentümern und Privatbanken befinden. Diese Entwicklung begann in den oberitalienischen Stadtstaaten um 1200, vollendete sich aber erst in England um 1700. Das Großeigentum und die Banken befanden sich in dieser Phase fast vollständig in den Händen der Aristokratie. Der Fernhandel, der als Kern des damaligen Kapitalismus betrachtet werden kann, wurde vom Staat geschützt und von Großeigentümern und Banken finanziert. Der Staat wiederum finanzierte sich zunehmend über Anleihen, die über Banken organisiert und von Großeigentümern besessen wurden. Mit der Entstehung des Nationalstaats wurde der Staatsapparat Teil des Fernhandels, der sich mit dem Kolonialismus verband. Während der italienische Fernhandel Privatangelegenheit blieb und der spanische Kolonialismus Sache des Monarchen war, entwickelte sich der englische Kolonialismus als Zusammenarbeit zwischen Privatkapital und Staat.

      Dann erst wurden Marktwirtschaft und Demokratie eingeführt, und zwar Schritt für Schritt. Die ersten Demokratien in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten schlossen zu Beginn die große Mehrheit der Bevölkerung aus – Arme, Arbeiter, Frauen, Sklaven und Ausländer. In vielen westlichen Staaten haben Frauen erst Mitte des 20. Jahrhunderts die vollen Bürgerrechte erhalten, Afro-Amerikaner in den USA erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie hatten dementsprechend nicht die gleichen Möglichkeiten, am Wirtschaftsleben zu partizipieren, wie die Bürger, zumal die ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen auch kein Recht hatten, Verträge zu schließen. Der Markt mit vollem und gleichem Wettbewerb wurde nur sehr unvollkommen und teilweise nur in einzelnen Branchen verwirklicht. Für Anwälte, Ärzte, Schornsteinfeger und viele andere Berufe gilt in Deutschland bis heute das Prinzip der mittelalterlichen Gilde, nach dem für die Teilnahme am Wirtschaftsleben eine Mitgliedschaft im Berufsverband erforderlich ist, der jedem Mitglied wiederum einen quasi-monopolistischen Tätigkeitsort zuweist. Das ist das Gegenteil eines Marktes.

      Es ist wichtig festzuhalten, dass die Einführung von politischer und ökonomischer Gleichheit erst geschah, nachdem das kapitalistische System schon etabliert und das Kapital in einer kleinen Gruppe von Menschen konzentriert war. Wegen der extrem ungleichen Ausgangsbedingungen blieb das Kapital bis heute konzentriert. Ein echter Wettbewerb und soziale Mobilität sind historisch nur zu beobachten, wenn massive politische oder ökonomische Umwälzungen stattfanden, beispielsweise eine Revolution, Krieg, politische Interventionen, die industrielle Revolution, wissenschaftliche Organisation der Produktion oder die Digitalisierung. Da das Kapital aber zu jedem Zeitpunkt innerhalb einer kleinen Gruppe konzentriert war, hatte jede Umwälzung im Wesentlichen das Resultat, dass einige der Erneuerer in die Gruppe der Kapitaleigner aufstiegen, diese und die Gesamtstruktur der Gesellschaft aber unverändert blieben. In den Ländern, die den Kapitalismus erst später einführten, fallen die Einführung von Kapitalismus, von freiem Markt und von Demokratie nahezu zusammen oder sind teilweise in ihrer Abfolge verändert. Daher ist es während der Umwälzungen in ihnen oft zu höherer sozialer Mobilität gekommen, aber das Prinzip ist mittlerweile in allen Staaten der Erde identisch.

      2.11 Kapitalismus und Markt

      Vom staatlich organisierten und regulierten Markt und vom Kapitalismus ist der Markt im eigentlichen Sinne zu unterscheiden, der lokal organisierte Wochenmarkt.1 Dieser Markt kann als Wettbewerb funktionieren, aber in vielen Weltregionen teilen noch heute die Anbieter am Ende des Tages den Gesamtgewinn unter sich auf. Normalerweise sorgt die Gemeinschaft dafür, dass alle überleben, obwohl das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sowie der Wettbewerb die Preise bestimmen. Die Gemeinschaft betreibt eine soziale Wirtschaft, die auch in kapitalistischen Gesellschaften Grundlage der Reproduktion ist. Sie umfasst Kindererziehung, Arbeit in der Familie, Hilfe von Freunden, Betreuung von Pflegebedürftigen, Produktion (beispielsweise von Obst) für den Eigenbedarf, direkten Tausch und ähnliche Tätigkeiten. Ohne sie könnte eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht existieren.

      Wir meinen, die Wirtschaft umfasse alle produktiven und damit lebensnotwendigen Aktivitäten und sei im Dienst der Konsumenten als Markt organisiert. Aber der größte Teil der Wirtschaft findet außerhalb von Marktwirtschaft und Kapitalismus statt. Wer hilft nicht dem Nachbarn beim Dachausbau, dem Freund beim Umzug, der Tochter bei den Hausaufgaben und der Tante bei der Ausrichtung eines Festes? Wer schenkt nicht der Lehrerin einen Korb voller Äpfel vom eigenen Baum und dem Arbeitskollegen einen Plan zum Fliesenlegen? All diese Tätigkeiten sind produktiv und geldwert. Sie können prinzipiell als Komponenten der Wirtschaft auch gegen Bezahlung geleistet werden. Wenn man die reproduktiven Tätigkeiten wie Kindererziehung und Haushalt einbezieht, so zeigt sich, dass der größte Teil der Wirtschaft selbst in westlichen Gegenwartsgesellschaften immer noch außerhalb der staatlich organisierten Marktwirtschaft und außerhalb der Geldwirtschaft stattfindet. Das gilt erst recht für Gesellschaften des globalen Südens, in denen Subsistenzwirtschaft noch eine große Rolle spielt.

      Neben der sozialen Wirtschaft müssen wir den Markt im alltäglichen Sinne von der Marktwirtschaft und vom Kapitalismus unterscheiden. Der Bäcker an der Ecke ist kein Kapitalist, sondern in erster Linie Marktteilnehmer. Er mag qualitativ schlechtes Mehl verwenden und überhöhte Preise verlangen. Aber er bestreitet von seinen Einkünften lediglich seinen eigenen Lebensunterhalt. Mit Ihrem Einkauf für den Eigenbedarf bezahlen Sie gleichsam seinen Einkauf für den Eigenbedarf. Ein großer Teil der Wirtschaft ist so aufgebaut – als Markt. Mehrere Anbieter konkurrieren über den Preis – und die Qualität – um Kundschaft. Ist das in einem nationalstaatlichen Rahmen organisiert, können wir von Marktwirtschaft sprechen. Davon zu unterscheiden ist der Kapitalismus, in dem es nicht um Produktion und Lebensunterhalt, sondern um Profit und Kapitalakkumulation geht. Dafür

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