Zerreißproben. Группа авторов
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Der freiheitliche Staat gehorcht seinen eigenen zehn Geboten, die der Herrschaft hochgetürmte Mauern setzen: Du sollst nicht Rede- und Meinungsfreiheit ächten, einen fairen Prozess verweigern, Eigentum antasten. Du sollst freie Wahlen, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz ehren. Jeder hat das Recht auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«. Das Urprinzip gilt seit der englischen Magna Charta von 1250: Der Monarch steht nicht über, sondern unter dem Gesetz.
Woke und weiße Oberherrschaft
Die Ideologie des ›Wokismus‹ schleift diese Bastionen – ausgerechnet in Amerika, dem gelehrigsten Kind der Aufklärung. Statt Individualität herrscht Identität. Descartes’ »Ich denke, also bin ich« gehört demnach zusammen mit dem Patriarchat in den Abfalleimer der Geschichte. Denn das Ich versinkt im Kollektiv, das durch Kultur, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Glaube und vor allem Opferstatus definiert wird.
›Wahrheit‹ gebe es nicht; sie werde ersetzt durch diverse »Regime der Wahrheiten«, die in der Macht wurzelten, predigt Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge. Wissenschaft sei bloß ein »Sprachspiel«, wähnt Jean-François Lyotard. Wissen ist ein Konstrukt, das die Mächtigen erfunden haben, um den Rest zu versklaven.
Wissen und Moral sind nur für diese oder jene Kultur verbindlich. Es tobt der machtbasierte Relativismus. Alles ist einerlei: ob objektiv oder subjektiv, Realität oder Vorstellung – es gehe allein um den »strategischen Nutzen« einer Theorie, doziert Lyotard. Macht ist die Karte, die alle anderen sticht. Da gehen sie dahin: Renaissance, Aufklärung und all die toten weißen Männer und ihre Erfindungen.
Witzbolde lästern mit George Orwell: »Dann ist ja zwei plus zwei gleich fünf.« Inzwischen ist der Gag die Richtschnur. Gerade hat das Bildungsministerium des US-Gliedstaates Oregon an seine Lehrer eine 82 Seiten lange Handreichung verteilt, die »Rassismus im Mathematikunterricht abbauen« soll.2 Es gebe nicht eine »richtige«, sondern viele Antworten. Das »Entweder- oder« erhalte »kapitalistische und imperialistische Ansichten über die Welt aufrecht«. Der klassische Mathe-Unterricht sei ein Werkzeug der white supremacy. Weg mit Pythagoras, Newton und leider auch den Arabern, die uns die Null und den Logarithmus verschafft haben. Mathematik ist demnach nicht objektiv. Und die Sonne geht im Osten unter.
Der Unterschied zum klassischen Totalitarismus? Keine Geheimpolizei, kein Gulag. Für Goodthink und Newspeak sorgt die Gesellschaft selber – genauer: eine deutungshoheitliche Klasse, die über die kulturellen »Produktionsmittel« verfügt und die »Kommandohöhen der Kultur« besetzt, um von Marx und Lenin zu borgen: Universitäten, Medien, Stiftungen, Schulen, Künste, ja mittlerweile auch Vorstandsetagen.
Warum diese Kulturrevolution so schnell so erfolgreich war, mögen künftige Historiker erklären. Heute gilt, dass ›Falschdenk‹ und ›Falschsprech‹ Menschen und Karrieren vernichten – ohne fairen Prozess. Die Anklage ist schon Beweis genug. Inzwischen sorgt sich selbst ein Linksliberaler wie Barack Obama. »Diese Idee von woke – hört endlich auf damit. Die Welt ist unordentlich, zweideutig.«
Da war er schon nicht mehr Präsident, doch ist der Staat längst Teil des Problems. Er hilft mit immer schärferen, auch strafbewehrten Regularien, um inakzeptables Reden und Handeln auszumerzen. Karl Marx würde sich freuen, hat er doch gelehrt, dass der Staat das willige Werkzeug der jeweils herrschenden Klasse sei.
Der gute Für- und Vorsorgestaat
Seine heutigen Repräsentanten sprechen etwa so: »Wir sind nicht die Zwangsvollstrecker irgendeiner Elite, denn wir verkörpern das Wohl der Nation. Wir kujonieren nicht, wir bedienen das Staatsvolk. Wir umsorgen und versorgen, wir schützen und versichern es gegen die allfälligen Risiken menschlicher Existenz«. Früher waren der Feind Krieg, Katastrophe, sozialer Abstieg, schiere materielle Not. Heute sind es Corona und Wirtschaftskollaps.
»Haben wir euch nicht von Polio und Masern befreit«, fahren die Repräsentanten des guten Staates fort, »von Pest und Cholera? Wehren wir nicht jedwede tödliche Bedrohung ab – ob Rauchen, Klimawandel, Atomkraft oder Drogen? Und schenken wir euch nicht einen einklagbaren Anspruch nach dem anderen? Wir sind doch kein Politbüro, keine Nachgeburt der Schreckensherrschaft im 20. Jahrhundert.« Der Staat ist vielmehr der gute Samariter. Er hegt, pflegt und alimentiert. Keine Allianz, keine Axa kann, was allein der wohlwollende Staat mit seinem unerschöpflichen Reichtum kann: Ab- und Versicherung von der Wiege bis zur Bahre.
Wer in seinen Angstvisionen vom neoautoritären Staat fantasiert, mag zunächst Mut fassen. Keine Folterkammern, keine Volksgerichtshöfe. Und Datenschutz über alles! Das echte Problem aber ist eine bizarre Mischung aus Inkompetenz und schleichendem Übergriff im Namen des Guten: der absoluten Risikoabwehr. Auf der einen Seite liegen Millionen ungenutzter Impfdosen, das chaotische Nebeneinander ewig wechselnder Befehle. Auf der anderen steht ein Staat, der mit jedem Fehltritt seine Macht ausdehnt. Die Inzidenzzahlen steigen? Dann Versammlungsverbot, Ausgangssperre und Lockdown – und zwar mit dem Bürger als willigem Komplizen.
Aufblähen ohne Rechenschaft
Wer hier von der ›Covid-Diktatur‹ faselt, kennt den echten Zwangsstaat nicht und ignoriert zudem die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in dem auch der gute Staat unaufhörlich zu wuchern begann. Die beste Messlatte der Macht ist die Staatsquote – welchen Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) die Regierung unters Volk bringt, um es zu ködern und den Staatsapparat aufzublähen, ohne sich unbedingt um Rechenschaft zu kümmern.
Um 1900 kassierte der amerikanische Gesamtstaat 8 Prozent, im Corona-Jahr 2021 waren es über 44, also fünfmal so viel. Bloß betrug die Quote schon vor der Covid-19-Pandemie an die 40 Prozent. Grossbritannien: von 12 Prozent vor 120 Jahren auf 51 Prozent heute. Deutschland: von 20 auf 45 bis zur Corona-Krise; jetzt 57. Die Schweiz steht leicht besser da, aber auch hier gilt: Seit 100 Jahren nimmt sich der Staat immer mehr, und Covid-19 ist nur der Extraklacks obendrauf. So oder so öffnet sich der Weg in die demokratische Staatswirtschaft.
Gleiches gilt auch für die Sozialquote: was der Staat verteilt, um die Bürger bei Laune zu halten. Die Quote ist seit 1900 im Westen von ein paar Prozent steil hochgeschossen – auf ein Drittel des BIP in Frankreich, auf mehr als ein Viertel in Deutschland. In der amerikanischen Hochburg des angeblichen Raubtierkapitalismus lag das ›social spending‹ vor 120 Jahren bei knapp über null, nunmehr bei 20 plus. Märchenhaft wächst der gute Staat von Stockton, Kalifornien, bis Stockholm, Schweden.
»Money talks«, besagt ein amerikanisches Wort; auf Deutsch: »Wer zahlt, schafft an.« Der Staat nährt und impft, lockt und bindet mich – Ware gegen Wohlverhalten.
Wohlfahrt contra woke
Worin also liegt der Unterschied zwischen Wohlfahrt und woke? Der gute Staat nutzt nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot. Er macht angebotsorientierte Politik: Kommt, labt euch, und lasst uns machen. Der Staat wächst unaufhaltsam, wie die historischen Daten zeigen, und der autonome, selbstverantwortliche Mensch schrumpft.
Woke hingegen ist, was früher Jakobiner und Rote Garden erzwungen haben. Woke ist das schiere Powerplay, was Lenin kto kowo nannte, »Wer bezwingt wen?«. Ächtung und sanfter Zwang bestimmen Sprache, Denken und Verhalten. Wir ›Aufgewachten‹ entscheiden, wer die Opfer und die immergleichen Täter sind. Im Namen des anderen verteufeln wir, wer anders denkt. Wir verwirklichen die Tugendherrschaft