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Zerreißproben - Группа авторов Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

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sowohl im deutschen Ordoliberalismus als auch in den liberalen Ansätzen der Chicago School eine Gegenbewegung gegen den New Deal Roosevelts und gegen die wohlfahrtsstaatlichen Reformen in Großbritannien im Anschluss an den Beveridge Report.

      Aus der Perspektive derjenigen, die den Begriff im Sinne des Neoliberalismus B verwenden, erscheinen auch die 1960er- und 1970er-Jahre retrospektiv, und mehr oder weniger stark verklärt, als goldene Jahrzehnte einer sozialdemokratisch-progressiven Wirtschaftspolitik. Bis zum finalen Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods im Jahr 1973 herrschten zwischen den wichtigsten entwickelten Volkswirtschaften fixe Wechselkurse. Die keynesianische Konjunktursteuerung wurde in fast allen Ländern versucht und war ab 1967 mit der Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes auch in Deutschland offizielle Politik. Der Sozialstaat wurde in allen Industrieländern ausgebaut, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Über eine aktive Industriepolitik erfolgte eine staatliche Lenkung auch privater Investitionen.

      Diese auf der linken Seite des politischen Spektrums sehr positiv bewerteten politischen Entwicklungen waren jedoch nicht lange stabil. Das System fixer Wechselkurse scheiterte an unterschiedlichen Interessen seiner Mitgliedsländer. Der Versuch der Konjunktursteuerung führte ebenso wie der Ausbau des Sozialstaates zu strukturellen Budgetdefiziten und schnell wachsenden öffentlichen Schuldenständen. Hohe, in vielen Ländern zweistellige jährliche Inflationsraten gingen mit steigender Arbeitslosigkeit einher. Und regulatorische Verkrustungen bremsten die Innovations- und Wachstumsdynamik.

      Diese in jeder Hinsicht unbefriedigende Situation führte dazu, dass in vielen Industrieländern sozialdemokratische Regierungen schwere Wahlniederlagen erlitten. Carter, Callaghan und Schmidt wurden abgelöst durch Reagan, Thatcher und Kohl. Dieser in schwerwiegenden, realen Problemen der vorangegangenen sozialdemokratischen Politik begründete Umschwung der politischen Praxis hin zu einer wieder stärker auf Wettbewerb, begrenzte Staatstätigkeit und langfristiges Wachstum ausgerichteten Politik ist letztlich der Ursprung des Begriffsverständnisses als Neoliberalismus B. Hinter diesem steckt kein durchdachtes theoretisches Konzept, sondern ein politischer Reflex: Neoliberal ist jedes politische Handeln, das nicht der in der Erinnerung verklärten politischen Praxis der sozialdemokratischen Jahrzehnte entspricht.

      Neoliberalismus als modernes politisches Projekt?

      Auf der einen Seite wird Neoliberalismus B also als ein vor allem destruktives Projekt verstanden, das den Lauf der Geschichte vom zuvor eingeschlagenen sozialdemokratisch-progressiven Weg abgebracht hat und ihn seither hindert, auf diesen Weg zurückzukehren. Nicht umsonst gilt denjenigen, die den Begriff im Sinne des Neoliberalismus B nutzen, auch der Versuch einer Modernisierung der Sozialdemokratie in den 1990er-Jahren als neoliberales Projekt.

      Auf der anderen Seite haben wir einen ideengeschichtlichen Begriff, der sich auf eine lange vergangene Phase liberalen theoretischen Denkens bezieht. Deshalb stellt sich die Frage, wie ein moderner Neoliberalismus verstanden werden könnte, der an den ursprünglichen Neoliberalismus A anknüpft.

      Natürlich kann hier schon aus Platzgründen kein umfassendes politisches Programm skizziert werden. Einige wenige Stichworte müssen daher genügen. Ein moderner Neoliberalismus ist empirisch fundiert. Wir wissen inzwischen sehr viel mehr darüber, wo Märkte gut funktionieren und vor allem mit welchen besonderen Spielregeln manche Märkte flankiert werden müssen, um gut zu funktionieren. Trotzdem wird auch ein moderner Neoliberalismus auf den Ordnungsrahmen fokussiert sein, auf direkte Eingriffe in den Preismechanismus also weitestgehend verzichten. Herausforderungen, die, wie der Klimawandel, aus externen Effekten folgen, wird er durch eine Bepreisung dieser Effekte begegnen. Die Lösung des Problems erfolgt also mit dem Preismechanismus, nicht gegen ihn. Einer Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wäre stärker mit dem Abbau von Hemmnissen für soziale Aufwärtsmobilität zu begegnen als mit sehr hohen Steuer- und Abgabenlasten.

      Das Alleinstellungsmerkmal eines modernen Neoliberalismus dürfte also auf der konzeptionellen Ebene darin liegen, dass er individuelle Freiheit nicht nur als eigenständigen Wert ansieht. Vielmehr sieht er, empirisch gut begründet, individuelle Freiheit und wirtschaftlichen Wettbewerb auch als zentrale Voraussetzungen für die effiziente Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme. Im Kern steht moderner Neoliberalismus für eine optimistische Perspektive: Ein liberaler Ordnungsrahmen kann die Innovations- und Wachstumsdynamik der Marktwirtschaft stärken, und zwar so, dass auch aktuell anstehende große, etwa ökologische Herausforderungen bewältigt werden.

      Literatur

      FOUCAULT, MICHEL: Die Geburt der Biopolitik. 6. Aufl. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2006

      KOLEV, STEFAN: Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl. Berlin [de Gruyter] 2017

      SCHNELLENBACH, JAN: The Concept of Ordnungsökonomik: Rule-Based Economic Policy-Making from the Perspective of the Freiburg School. In: Public Choice, im Erscheinen

      SCHUMPETER, JOSEPH A.: Capitalism, Socialism and Democracy. New York [Harper] 1942

      SHU, PIAN; CLAUDIA STEINWENDER: The Impact of Trade Liberalization on Firm Productivity and Innovation. IN: LERNER, JOSH; SCOTT STERN (Hrsg.): Innovation Policy and the Economy. Bd. 19. Chicago [Chicago University Press] 2019, S. 39-68

      TOLLISON, ROBERT D.: The Economic Theory of Rent-Seeking. In: Public Choice, 152, 2012, S. 73-82

      Josef Joffe

      Hier die Woke-Aktivisten, dort der Wohlfühlstaat1

      Der liberale, also machtbegrenzte Staat wird von zwei neuen Feinden heimgesucht, die vor einer Generation nicht einmal im Albtraum aufschienen. Der eine Feind ist der weiche Totalitarismus. Vor vierzig Jahren als ›Dekonstruktion‹ in Frankreich erfunden, wanderte er nach Amerika aus, wo er zu grotesker Form aufstieg und jetzt im gesamten Westen en woke ist. ›Woke‹, etwa ›aufgewacht‹ oder ›erleuchtet‹, nennen sich jene, die überzeugt sind, es gebe eine weiße Vorherrschaft über die »Verdammten dieser Erde«, wie es in der Internationale heißt: über Frauen, Dunkelhäutige, Schwule, Fremde, Andersgläubige. Alle sind Opfer der infamen Verschwörung weißer Männer.

      Am anderen Ende kommt der Feind als guter Onkel daher. Der ist der freundliche für- und vorsorgende Staat, der sich freilich nicht erst seit Covid-19-Zeiten unaufhörlich ausbreitet. Das demokratische Gemeinwesen arrondiert seine Macht ohne Waffengeklirr und mit der stillen Duldung des demos.

      Wokeness ist im Kern Stalinismus ohne NKWD, Maoismus ohne Rote Garden. Als Ziel gilt die Erlösung von der weißen Oberherrschaft. Tatsächlich ist wokeness jedoch eine Attacke gegen das Beste im Westen: Renaissance, Aufklärung, Liberalismus.

      Die drei Säulen

      Renaissance ist Leonardo da Vinci und Galileo, Buchdruck, Mathematik und Astronomie. Nein, die Erde ist keine Scheibe, und das Universum dreht sich nicht um unseren Planeten. Nicht Kirche und Krone bestimmen das Wahre, sondern Beobachtung, Berechnung und Beweisführung. Damit sind wir bis zum E-Auto und zum Mars gekommen.

      Aufklärung ist »sapere aude« – wage zu wissen. In Kants Worten: Aufklärung ist die »Maxime, jederzeit selbst zu denken«. Nicht Priester, Potentat und Partei denken für mich. Ich muss es selber tun – Irrtum eingeschlossen. Doch enthält meine Deutung die Dauereinladung, sie regelhaft zu widerlegen. Das Wie debattiert die Philosophie seit den Vorsokratikern auf der Grundlage von Ratio und Recherche. Die Prämisse: Wahrheit gibt es, doch wird sie nicht verfügt, sondern im ewigen Disput

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