Zerreißproben. Группа авторов
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Thomas Petersen
Die zerrissene öffentliche Wahrnehmung des Liberalismus
Zum Hamburger Volksgut gehören die ›Klein Erna‹-Geschichten. Das sind Witze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, überwiegend ziemlich flache Kalauer, öfter auch etwas anzüglich, die präzise den Zungenschlag ihrer Zeit wiedergeben. Sehr treffend karikieren sie den Tonfall der Menschen und ihre oft sinnlosen Sprachmarotten. Für ältere Hamburger, die noch Leute kannten, die so sprachen, wie die Figuren in den Witzen, ist das eine sehr vergnügliche Lektüre. Jüngere und vor allem Nichthamburger stehen dagegen meist fassungslos davor und fragen sich, was denn daran lustig sein soll.
Eine dieser ›Klein Erna‹-Geschichten geht wie folgt:
»Mamma trifft mal Tante Frieda auf Straße.
›Wie geht’s denn?‹ sagt Tante Frieda.
›Och‹, sagt Mamma, ›muscha, aber Pappa is so nervös, ich bin so nervös, und Klein Erna ischa auch schon so furchtbar nervös…, sag mal, Frieda, was is das eigentlich: nervös?‹«1
Den gleichen Witz könnte man auch mit dem Begriff ›liberal‹ erzählen. Ganz selbstverständlich wird das Wort verwendet, viele Menschen glauben auch, dass es auf sie selbst zutrifft, doch was es eigentlich bedeutet, ist ihnen nicht klar.
›Liberal‹ ist das, was die Amerikaner ein ›Wieselwort‹ nennen. Ein Begriff, der nicht zu fassen ist, der einem davonrennt, wenn man versucht, ihn festzuhalten. Nicht, dass er, historisch oder politikwissenschaftlich betrachtet, keine klare Bedeutung hätte, doch im Alltagsgebrauch hat er allenfalls einen sehr vagen Inhalt.
Damit steht das Wort ›liberal‹ nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe anderer Begriffe der öffentlichen Diskussion, die zum Teil mit großen Emotionen aufgeladen sind, die ebenso wenig zu fassen sind. ›Öffentliche Meinung‹ ist so ein Fall, auch ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹. Bei letzterem gibt es sogar verbreitete Bedeutungen, die sich gegenseitig ausschließen,2 mit der Folge, dass bei Diskussionen um dieses Thema die Beteiligten hoffnungslos aneinander vorbeireden, ohne es zu bemerken, weil sie zwar denselben Begriff verwenden, aber etwas ganz Unterschiedliches damit meinen.
Der Bevölkerung ist die Unschärfe des Begriffes auch durchaus bewusst. Im Dezember 2020 legte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage eine Liste mit Begriffen vor. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, bei welchen dieser Begriffe man ziemlich genau sagen kann, was damit gemeint ist, und bei welchen das eher unklar ist. Das Ergebnis: Eine klare Mehrheit von 56 Prozent der Befragten antwortete, bei ›liberal‹ sei eher unklar, was damit gemeint ist. Damit lag dieser Begriff noch vor so schwammigen Stichwörtern wie ›Nachhaltigkeit‹, ›Innovation‹ und – hier allerdings nur mit einem knappen Vorsprung – ›Generationengerechtigkeit‹.3
Die Mehrheit in der Bevölkerung gibt also offen zu, dass sie nicht so genau weiß, was mit dem Begriff ›liberal‹ gemeint ist. Gleichzeitig aber herrscht die Überzeugung vor, dass er etwas Positives bedeutet. Auf die Frage »Wenn Sie den Begriff ›liberal‹ hören, verbinden Sie damit eher etwas Positives oder etwas Negatives?« antworteten im Dezember 2020 63 Prozent, sie verbänden damit etwas Positives, nur 9 Prozent widersprachen.4 Damit hat sich der Klang des Wortes in den letzten Jahren sogar noch verbessert: Im Jahr 2012 waren ›nur‹ 54 Prozent der Befragten der Ansicht, ›liberal‹ bedeute etwas Positives.5 Und so ist es auch nicht überraschend, dass viele Menschen sich mit dem so positiven Stichwort identifizieren. Auf die Frage »Würden Sie sich selbst als liberal bezeichnen, oder würden Sie das nicht sagen?« antworteten im Oktober 2018 50 Prozent der Befragten, sie würden sich selbst als liberal bezeichnen. Schaut man dann, welche Überzeugungen diese Personen bei gesellschaftspolitischen Fragen äußern, sieht man rasch, dass sie das ganze Meinungsspektrum repräsentieren. So findet man beispielsweise viele ›liberale‹ unter den Anhängern aller Parteien. Am größten ist ihr Anteil, wenig überraschend, unter den FDP-Anhängern, doch auch unter den Anhängern von CDU/CSU, SPD und den Grünen bezeichnet sich eine Mehrheit als liberal. Selbst die Anhänger der Linken, deren Programmatik kaum Anknüpfungspunkte zu klassischen liberalen Prinzipien bietet, sagten zu 39 Prozent, sie betrachteten sich selbst als liberal (Abb. 1).
Abbildung 1 ›Liberale‹ in allen Parteien
Frage: »Würden Sie sich selbst als liberal bezeichnen, oder würden Sie das nicht sagen?«
Antwort: »Würde mich als liberal bezeichnen.«
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11094 (Oktober 2018)
Diese Kombination: Eine aus Sicht der meisten Menschen vage Bedeutung bei einem gleichzeitig eindeutig positiven Beiklang macht den Begriff ›liberal‹ zu einer begehrten Beute im politischen Wettstreit. Und so hat es in den letzten Jahren intensive Versuche von verschiedenen politischen Strömungen gegeben, den Begriff mit neuen Bedeutungen aufzuladen und für sich in Beschlag zu nehmen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Schlagworts ›Neoliberalismus‹ in die politische Debatte in den 1990er-Jahren, die es ermöglichte, Inhalte, die man vorher einfach als liberal bezeichnet hätte, mit dem – zumindest außerhalb volkswirtschaftlicher Fachkreise – neuen, negativ konnotierten Begriff zu belegen. Der positiv belegte Begriff ›liberal‹ ließ sich auf diese Weise gleichsam freiräumen und konnte so als ›neuer‹, ›wahrer‹ oder sonstwie ›besserer‹ Liberalismus gegen die Inhalte in Stellung gebracht werden, für die er ursprünglich stand.
Die Folge dieser Entwicklung ist, dass in den – ohnehin schon vagen – Vorstellungen der Bevölkerung vom Begriff ›liberal‹ ursprüngliche und neu hinzugefügte Elemente durcheinandergehen. Dies zeigen die Antworten auf die zuletzt im Frühjahr 2017 gestellte Frage »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« Dazu überreichten die Interviewer eine Liste mit Antwortmöglichkeiten. 64 Prozent der Befragten antworteten daraufhin, dass es ihrer Ansicht nach Aufgabe einer liberalen Partei sei, die Freiheit der Bürger zu schützen. 58 Prozent meinten, eine liberale Partei müsse sich um Chancengerechtigkeit kümmern, also dass jeder unabhängig von sozialer Herkunft oder Geschlecht gleiche Chancen im Beruf und bei der Bildung hat. An dritter Stelle stand, genannt von 55 Prozent der Befragten, der Punkt »Die Belastungen durch Steuern und Abgaben senken«.
Diese politischen Ziele lassen sich sicherlich gut aus den Grundprinzipien des Liberalismus ableiten. Doch erhebliche Teile der Befragten nannten auch Punkte, die man traditionell eher konservativen Parteien zuordnen würde, wie »Dass die Bürger besser vor Kriminellen geschützt werden« (43 %) oder auch eher sozialdemokratische Ziele wie »Die sozialen Unterschiede, die Unterschiede zwischen Arm und Reich abbauen« (43 %), die zwar nicht in direktem Widerspruch mit liberalen Prinzipien stehen, die man aber zumindest nicht als spezifisch liberal bezeichnen würde. Dennoch wurden sie häufiger zu den Aufgaben einer liberalen Partei gerechnet als die klassische liberale Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Bürger (Abb. 2).
Dabei ist auffällig, dass die Anhänger der verschiedenen Parteien dazu neigen, ihre eigenen Überzeugungen auf den Begriff ›liberal‹ zu projizieren. Anhänger der Partei Die Linke sind über proportional häufig der Ansicht, eine liberale Partei müsse die Unterschiede zwischen Arm und Reich abbauen, während sie die Verteidigung der Marktwirtschaft nicht so sehr