Zerreißproben. Группа авторов

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Zerreißproben - Группа авторов Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

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um einen Aufstand gegen die globalisierte Moderne und die von ihr bescherte grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit der Welt. Die Revolte richtet sich gegen das kosmopolitischurbane, global vernetzte sogenannte ›Establishment‹.

      Umgekehrt kann man in den europäischen Hauptstädten und amerikanischen Metropolen beobachten, wie die Funktionseliten und die politische Klasse ihre Bodenhaftung eingebüßt haben. Deshalb sind es eben nicht nur populistische Ressentiments, Skepsis gegenüber Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die die europäischen Gesellschaften und ihre gewachsenen sozialen Ordnungen erschüttern. Es sind ganz neue und reale Probleme, nicht etwa nur diffuse Ängste der Bevölkerung, neue Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen und offenen Gesellschaften samt ihrer demokratischen Institutionen und das politische Gefüge im Kern berühren. Die alte politische Klasse hat auf diese neuen Herausforderungen bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Die Kluft zwischen den alten, staatstragenden Volksparteien und der Bevölkerung ist im Laufe der letzten Jahre immer größer geworden.

      Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, greift es immer noch.

      Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation sind nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt, gesellschaftliche Minderheiten und der Umgang mit ihnen gerückt. Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck. Denkverbote und ideologische Scheuklappen machen eine argumentative und rationale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen immer schwieriger.

      Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation, bis hin zum westlichen Selbsthass, werden immer lauter. Sie sind nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet, wie der Streit über Rassismus und Kolonialismus zeigt. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind.

      Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Kinderbücher werden umgeschrieben, weil das Wort ›Negerkönig‹ anstößig ist. Die Diskurspolizei ist auch an den Universitäten unterwegs. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Statuen vom Sockel geholt. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien. Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Säuberung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen.

      Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weiße ›Race‹ als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine ›Kritik der weißen Vernunft‹ wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.

      Der Ausgang aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.

      Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden ›Communities‹, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen. Die fremdenfeindliche Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirft. Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat.

      Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuelle Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand.

      Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBTQ+-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektiven religiösen, kulturellen, sexuellen und ethnischen Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub.

      Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht. Erschreckend ist zudem die Rigidität und Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit. Und der ›Schuldkomplex‹ (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Gräuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen ›Opfern‹ – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.

      Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten beschert, Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn, wie Kant feststellte: »Aus so krummem Holze, aus dem der Mensch gemacht ist,

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