Zerreißproben. Группа авторов
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Abbildung 2 Vorstellungen von einer liberalen Partei
Frage: »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Hier auf den Karten ist einiges aufgeschrieben. Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« (Kartenspielvorlage) - Auszug aus den Angaben -
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11070 (April/Mai 2017)
Man bekommt den Eindruck, dass sich der Begriff des Liberalismus allmählich zweiteilt. Hin- und hergezerrt zwischen den politischen Lagern, die bemüht sind, ihn zu besetzen und mit neuen Bedeutungen aufzuladen, die mit dem traditionellen Begriffsverständnis wenig zu tun haben, droht er, die Reste seiner Konturen zu verlieren. Jene politische Tradition aber, die die individuelle Handlungsfreiheit des Einzelnen vor die zentrale Organisation des Kollektivs setzt, die die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat betont, die die Freiheit der Wirtschaft, Eigeninitiative und Eigenverantwortung vor staatliche Regelung und Betreuung stellt, die sich dafür einsetzt, dass der Staat zwar die Regeln des Zusammenlebens festlegt, nicht aber den Bürgern vorzuschreiben versucht, wie sie zu leben hätten, die bei politischer Mäßigung und auf fester demokratischer Grundlage größtmögliche Toleranz auch gegenüber abweichenden Meinungen und individuellen Lebensentwürfen propagiert, kurz jene politische Richtung, die man 200 Jahre lang ›liberal‹ zu nennen pflegte, wird in den kommenden Jahrzehnten einiges zu tun haben, dass ihr nicht ihr Schlüsselbegriff von politischen Wettbewerbern entführt wird.
Abbildung 3 Vorstellungen von einer liberalen Partei in den verschiedenen Parteilagern
Frage: »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Hier auf den Karten ist einiges aufgeschrieben. Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« (Kartenspielvorlage) - Auszug aus den Angaben -
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11070 (April/Mai 2017)
1Klein Erna. Ganz dumme Hamburger Geschichten. Nacherzählt und gezeichnet von Vera Möller. Gütersloh [Bertelsmann] [o. J.], S. 64.
2Vgl. PETERSEN, THOMAS: Die Einstellung der Deutschen zum Wert der Freiheit. In: ACKERMANN, ULRIKE (Hrsg.): Freiheitsindex Deutschland 2011 des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Frankfurt am Main: Humanities Online 2012, S. 17-56, dort S. 18-20.
3Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 12028.
4Ebenda.
5Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10085.
Jan Schnellenbach
Schimpfwort (Neo-)Liberalismus?
Als ökonomischer und ideengeschichtlicher Begriff ist der Neoliberalismus eigentlich klar definiert (KOLEV 2017: 24-28). Er bezeichnet eine Phase der Theorieentwicklung, die in den 1920er-Jahren begann und die in der Bundesrepublik vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten auch politisch einflussreich war. Der Neoliberalismus grenzte sich ab vom alten Laissez-Faire-Liberalismus, der nun oft auch etwas abschätzig als Paläoliberalismus bezeichnet wurde und eine wesentlich geringere Rolle für den Staat in der Wirtschaft sah.
Frühe Protagonisten des Neoliberalismus waren beispielsweise Franz Böhm, Walter Eucken, Friedrich A. von Hayek und Wilhelm Röpke. Diese vertraten in manchen Details durchaus unterschiedliche Positionen. Aber es einte sie die Einsicht, dass wirtschaftlicher Wettbewerb erstens aus verschiedenen Gründen wünschenswert ist und zweitens politische Voraussetzungen hat (SCHNELLENBACH 2021).
Wünschenswert ist Wettbewerb aus neoliberaler Sicht zunächst als ein Mechanismus zur Einhegung von Macht. Diese ist als wirtschaftliche Macht unmittelbar problematisch, weil sie zu Marktgleichgewichten führt, die nicht die statisch betrachtete gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt maximieren. Sie ist aber auch problematisch, weil sie Wahlmöglichkeiten reduziert, die Voraussetzung für individuelle Freiheit sind. Die Wahl zwischen Vertragspartnern zu haben, impliziert Freiheit, setzt aber auch Wettbewerb zwischen potenziellen Vertragspartnern voraus. Je mehr dieser Wettbewerb erodiert und Macht entsteht, umso mehr werden sowohl Freiheit als auch Wohlfahrt infrage gestellt.
Auch aus einer dynamischen Perspektive ist Wettbewerb wichtig. Theoretisch ist zwar unklar, ob mehr Wettbewerb stets mehr innovative Dynamik entfacht: Mit mehr Wettbewerb wird einerseits der temporäre Monopolgewinn reduziert, der erfolgreiche Innovationen belohnt, andererseits steigt der Druck, sich mit Innovationen von Wettbewerbern abzusetzen (SCHUMPETER 1942). Dies sind zwei gegenläufige Effekte. Aber empirisch wird inzwischen die Vermutung stark gestützt, dass intensiverer Wettbewerb die Innovationsneigung unter dem Strich positiv beeinflusst (SHU/STEINWENDER 2019). Die Erfolgsgeschichte des langfristigen Wirtschaftswachstums, die uns zu den Wohlstandsniveaus geführt hat, die wir inzwischen als selbstverständlich hinnehmen, verdankt sich letztendlich dem Wettbewerbsmechanismus.
Die Begründung, die neoliberale Denker dafür anführten, dass Wettbewerb wünschenswert ist, betrafen nicht nur im engeren Sinne ökonomische Ziele, sondern auch darüber hinaus gehende ethische Überlegungen. Individuelle Freiheit als zentrale Voraussetzung eines guten Lebens ist ohne Wettbewerb nicht zu haben: Wahlfreiheit als Konsument, der selbstbestimmte Abschluss eines Arbeitsvertrages, oder auch die Entscheidung, unternehmerisch zu handeln – all dies setzt eine Ordnung voraus, in der Markteintritt, Marktaustritt und der Wettbewerb unter Marktteilnehmern möglich sind.
Die zentrale Einsicht der Neoliberalen war aber, dass eine solche Wettbewerbsordnung nicht von selbst stabil bleibt. Sie wird von Kartellbildung ebenso bedroht, wie von rent-seeking (TOLLISON 2012), bei dem Unternehmen versuchen, die Politik dazu zu bringen, regulatorische Markteintrittsbarrieren zu errichten, um Marktmacht zu erhalten. Die Erhaltung von Wettbewerb ist deshalb selbst eine politische Aufgabe, und zwar die Aufgabe der Ordnungspolitik, die Spielregeln für die Märkte setzt.
Das neoliberale Programm wird im Gegensatz zum alten Laissez-faire-Liberalismus also gerade durch die (historisch gewachsene) Erkenntnis motiviert, dass der Staat aktiv werden muss, um eine funktionsfähige, liberale Wirtschaftsordnung zu erhalten. Auch die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Regulierung von externen Effekten und die Finanzierung eines Sozialstaates gehören aus neoliberaler Sicht zu den Aufgaben des Staates. Dezidiert nicht dazu gehören jedoch beispielsweise Preismanipulationen oder die Errichtung von Marktzutrittsbarrieren, die einen funktionsfähigen Wettbewerb sabotieren.
Neoliberalismus B:
von der Ideengeschichte zur politischen Praxis
Die Verwendung des Begriffs des Neoliberalismus in der alltäglichen politischen Diskussion, aber oft auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, hat ganz offensichtlich meist wenig mit dem oben skizzierten Verständnis zu tun. Das Neue am Neoliberalismus wird in dieser Variante nicht etwa, wie im Neoliberalismus A, relativ zum Paläoliberalismus gesehen, sondern relativ zu einer zuvor dominierenden, als progressiv verstandenen politischen Praxis.